Den Kriterien einer Novelle mag die nachfolgende Geschichte nicht genügen, obgleich sie in diesem unserem Lande mit seiner spezifischen Erinnerungskultur durchaus als eine novella, als erzählenswerte Episode, gelten kann. Literarische Ansprüche liegen dem Blogger fern. Bezeichnen wir die kleine Geschichte - sie hat mit der in Russland besonders gepflegten Kunst des Schachspiels zu tun - als Schachmiszelle.
In einer Kleinstadt im Südwesten gibt es einen Schachclub, in dem sich mein fünfjähriger Enkelsohn anschickt, das königliche Spiel zu erlernen. Einer seiner Lehrmeister (oder auch Trainer, Partner, noch kaum Gegner) ist ein Herr in den hohen Siebzigern. Der erzählte ihm, wie er selbst in etwa gleichem Alter - in den Kriegsjahren - zum Schachspielen kam.
Der alte Herr stammt von einem Bauernhof in der Eifel. Im Krieg - wichtig wäre an dieser Stelle eine genauere Zeitangabe - wurde seinem Vater ein russischer Kriegsgefangener zugewiesen. Mit den Sprachkenntnissen scheint es auf beiden Seiten nicht weit her gewesen zu sein, was indes kein Hindernis war, dass sich der Gefangene mit dem kleinen Jungen (und umgekehrt) anfreundete. Der russische (begrifflich genauer: der sowjetische) Kriegsgefangene schnitzte für sich und den Jungen ein Schachspiel und brachte ihm die ersten Züge bei.
Es muss hier offen bleiben, ob der Krieg - er war an diesem Teil der Westfront 1945 im Hürtgenwald und an der Rur monatelang blutig festgefahren - bereits im März mit dem Vormarsch der Amerikaner auf den Rhein beendet war. Es ist auch nicht bekannt, ob der russische Kriegsgefangene sich sogleich bei Ankunft der Amerikaner von den Bauersleuten verabschiedete. Der alte Herr, der die Geschichte seines frühen Schachunterrichts erzählte, erinnert sich jedoch an die Abschiedsworte seines jungen Lehrers: "Krieg kaputt, ich nach Hause."
Bekanntlich endete der Krieg für die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht mit dem 8. oder 9. Mai 1945 (d´en pob´edyi). Stalin hatte sie von vornherein als "Verräter" und/oder "Feiglinge" qualifiziert. Da sie überdies Vergleiche mit den Zuständen in der sozialistischen Sowjetunion hätten anstellen können, landeten die von den westlichen Siegermächten an den Hauptverbündeten überstellten Kriegsgefangenen, auch die Überlebenden deutscher Gefangenenlager, für lange Jahre im GULAG.
Für literarische Zwecke - das dénouement einer Novelle - ließe sich aus der obigen Episode eine Geschichte glücklichen Wiedersehens nach Jahrzehnten der von Ideologie, Haß und Gewalt dekretierten Feindschaft konstruieren. Indes handelt es sich nur um eine kleine, nicht gänzlich bedeutungslose Miszelle. Den Lesern dieses Blogs empfehle ich, die kleine Geschichte zusammen mit dem Bericht "Die Schura" von Michael Milutin Nickl zu lesen: http://www.globkult.de/geschichte/personen/689-die-schura
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