In Wahlkämpfen ertönt - gewöhnlich von progressiver Seite, aber auch wie zuletzt im Januar 2025 aus dem Munde des als konservativ betrachteten Friedrich Merz - der Ruf nach Reformen. Die Wahlversprechen sollen beim Wahlvolk Hoffnungen wecken und Stimmen bringen.. In den die Regierungsbildung vorbereitenden Koalitionsverhandlungen wird - seit wann eigentlich ? - ein ellenlanger Koalitonsvertrag ausgehandelt, in dem Reformen - in Wirtschaft und Gesellschaft, seit Putins Krieg auch im Militärbereich - vereinbart werden. Inwiefern die versprochenen Reformen - Wirtschaftswachstum durch Abbau der Bürokratie und Senkung der Energiekosten, Minderung der Soziallasten, konsequente Anwendung der Asylgesetze, alters- und gendergerechter Wiederaufbau einer "kriegstüchtigen" Bundeswehr etc. - danach realisiert werden, hängt von vielerlei Faktoren, von Entschlossenheit und realer Kooperationsbereitschaft der koalierenden Parteien, von innerparteilichen Macht- und Richtungskämpfen, sodann von externen Faktoren wie divergierenden Interessen in der EU sowie last but not least von globalpolitischen Playern wie Putin, Trump und Xi Jinping ab.
Am Ende passiert wenig oder nichts. Im vierten Jahr einer Rezession, die alles andere ist als die Abwärtsbewegung in einem Konjunkturzyklus, trat ein CDU-Politiker mit dem Vorschlag hervor, zur Vermehrung des BIP und zur Stabilisierung den Reformationstag am 31. Oktober als bezahlten Feiertag abzuschaffen und als Arbeitstag zu nutzen. Der Mann verfehlt das Thema gleich doppelt: erstens ist der Reformationstag in Bundesländern wie Berlin schon längst abgeschafft, zweitens hat er nicht die allfällige Empörung der Gewerkschaften bedacht. (Siehe H.A.: https://herbert-ammon.blogspot.com/2025/06/deutsche-feiertage-in-zeiten-sinkender.html)
Nichtsdestoweniger ist der - auf absehbare Zeit noch - vergebliche Reformvorschlag geeignet, einige Assoziationen über den Reformationstag, ehedem Hochfest des Protestantismus, zu wecken. Der 31. Oktober 1517 wurde erst hundert Jahre später anno 1617 - gleichsam im Vorspiel zum Dreißigjährigen Krieg - erstmals im Kurfürstentum Sachsen zum Feiertag erhoben. In seiner welthistorisch epochalen Bedeutung prägte er sich erst im nationalbewegten 19. Jahrhundert ins deutsche und europäische Bewusstsein ein. Für den Philosophen Hegel begründete die Reformation Luthers als deutsche Revolution den Durchbruch zur Freiheit, was im katholischen Frankreich erst durch die Große Revolution Wirklichkeit geworden sei. Umgekehrt gilt - nicht nur - im Nachbarland allen konterrevolutionären Denkern seit Joseph des Maistre das Jahr 1517 und La Réforme als der Sündenfall der Moderne. Von 1517 führte der Weg der gottlosen Neuzeit über die philosophes und das Jahr 1789 zu Lenin und zum Bolschewismus.
Derlei negative Geschichtstheologie verfehlt - auch geistesgeschichtlich - die Komplexität historischer Prozesse wie umgekehrt die - auf dem Boden des deutschen Idealismus gewachsene - liberale Theologie im Raum des Protestantismus. Alle Gewissheiten eines christlich-ethisch überhöhten Fortschrittsdenkens zerbrachen im I. Weltkrieg. Mit christlichen Versatzstücken versehene Nationalromantik mündete in die Ideologie der sog. Deutschen Christen, den Weggenossen der - teils offen atheistischen, teils neopaganen - Nationalsozialisten. In den Anfangsjahren des Dritten Reiches bewahrten und bewiesen wesentlich mehr Katholiken als Protestanten Distanz gegenüber dem NS-Regime.
Gegenüber der "großen Maskerade des Bösen" (Bonhoeffer) erwiesen sich selbst die Proklamationen der Bekennenden Kirche als letztlich unzureichend. Das an die Ökumene gerichtete Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 benannte zwar die Verfehlungen und Versäumnisse der evangelischen Kirchen, war aber nicht geeignet, deren faktisches Versagen - vor und nach dem Scheitern des 20. Juli - zu erklären. Stattdessen wurden in der späteren Nachkriegszeit protestantisch- christliche Schuldbekenntnisse zusehends zu einer Art Anklage, vorgetragen im Gestus moralischer Überlegenheit, im Sinne einer deutschen Kollektivschuld ausgeweitet und umgedeutet. Nicht wenigen Protestanten diente - mangels theologisch-philosophischer Alternativen - die aus dem Ost-West-Konflikt resultierende deutsche Teilung als Dogma, als die historische Strafe deutscher Schuld. Vor allem die EKD wurde zum Sprachrohr substanzlos säkularer Proklamationen wie der Erklärung des Weltkirchenrats von Vancouver 1983: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Gewiss doch, aber wie?
Die Hoffnung auf geistige Erneuerung - Reform - nach der maßgeblich von protestantischen Aktivisten in der DDR initiierten Befreiung von bedrückenden, unmenschlichen Machtverhältnissen ist in den Jahren seit dem wundersamen Jahr 1989/90 verflogen. Nach kurzer Zeit durchwehte der alte bundesrepubkikanische, linksliberale Geist - eine Mischung aus Schuldgefühlen, Selbstverleugnung und universalistischer Hypermoral - erneut die deutsche Kulturlandschaft. Der Geist wird bewegt von Intellektuellen, denen die deutsche Geschichte - von Luther über die Nationalbewegung, das preußisch-protestantische Kaiserreich bis zum Nazireich - nur noch als geistige Negativfolie dient. Abgesehen von den wenigen Frommen im Lande, meist Geistesverwandte der amerikanischen Evangelikalen, verkündet der zeitgenössische Protestantismus kaum mehr als eine Variante links-grüner Ideologie.
Kein Wunder, dass derlei Botschaft immer weniger Menschen anspricht. Derzeit gehören noch 22 Millionen Menschen in Deutschland der evangelischen Kirche an. Nur zwei Prozent davon sind regelmäßige Gottesdienstbesucher. In wenigen Jahrzehnten wird sich die Zahl halbiert haben.
Reformen in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft sind vonnöten. Von den in den diversen Gremien und Institutionen - Rundfunkräten, (staatlich geförderten) NGOs, Ethikräten und Parteien - vertretenen Protestanten sind - da nur Teil der gesellschaftlich-kulturellen Gesamtverfassung - leider keine fruchtbaren Anstöße zu Veränderungen - zu Reformen in Staat, Gesellschaft und Kultur - mehr zu erwarten. In einem ahistorisch gewordenen Land wird früher oder später auch der Reformationstag einer "Reform" geopfert werden.
 
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