Mittwoch, 31. Januar 2024

Das andere 1968

Peter Brandt und Gert Weisskirchen haben bereits 2022 eine Aufsatzsammlung über den hierzulande nahezu vergessenen "Prager Frühling" herausgegeben (Peter Brandt – Gert Weisskirchen (Hg.): Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Der Aufbruch in der Tschechoslowakei 1968 in seinem historischen Umfeld, Bonn (Verlag J.H.W. Dietz Nachf.) 2022, 287 Seiten). Im Vorgriff auf meine  demnächst auf Globkult erscheinende Besprechung des Buches zitiere ich nachfolgend folgenden Auszug:

"Historisches Faktum bleibt, dass [anno 1968] der reformsozialistische Aufbruch in Prag vor allem in der revolutionär erregten westdeutschen Studentenszene nur geringe Beachtung fand. Mit den „drei M“ - Marx, Marcuse, Mao – hatten die osteuropäischen Regimegegner wenig im Sinn. „Während junge Menschen in Westeuropa auf den Straßen die Namen kommunistischer Führer wie Mao, Fidel,Che oder »Onkel Ho« skandierten und sie als Helden des antiimperialistischen Befreiungskampfes feierten, versperrte die DDR den Zugang zur chinesischen Botschaft in Ost-Berlin“, schreibt Anna Kaminsky, Vorstandsmitglied der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in ihrem Beitrag über die Reaktionen in der DDR auf den Prager Frühling. „Während im Westen fernöstliche religiöse und spirituelle Bewegungen Anhänger fanden, wurden in der DDR Kirchen gesprengt, um Platz für die sozialistische Umgestaltung der Städte zu schaffen.“ (168f.)

Auf „das andere »Achtundsechzig« in Osteuropa“ verweist auch Luciana Castellina, KPI-Mitglied seit 1947, die 1969 als Mitbegründerin der Gruppe il manifesto aus Protest gegen die halbherzige Haltung der KPI gegenüber Moskau mit der Partei brach. Sie erinnert „sich noch, wie erstaunt wir in den Tagen unmittelbar nach dem Einmarsch in Prag über die Reaktionslosigkeit waren, die wir bei einem Großteil der jungen »Achtundsechziger« feststellten.“ (252) „Rudi Dutschke war der einzige »Achtundsechziger«, der sich für Dubčeks Reformversuch interessierte...“ Wenige Tage vor dem auf ihn verübten Attentat fuhr Dutschke nach Prag, wo er seine Prager Gesprächspartner vor der „Gefahr einer vorübergehenden Überhöhung der bürgerlich-demokratischen Kräfte“ und vor einer „Unterwanderung durch antisozialistische Ideen“ glaubte warnen zu müssen. (Ibid.) In Italien begriff selbst nach der Selbstverbrennung von Jan Palach (am16. Januar 1969) „keine der Publikationen der Neuen Linken...die Ungeheuerlichkeit des Geschehens“. Der Exilant Jiří Pelikan (1923-1999), als Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens ein maßgeblicher Protagonist des „Frühlings“, wurde in Rom nur von der Manifesto-Gruppe unterstützt.

Was die unter allen Proklamationen des „Internationalismus“ der 1968er Bewegung verdeckten „nationalen“ Impulse betrifft, so sind Castellinas Begegnungen mit den radikalen japanischen »Achtundsechzigern« aufschlussreich. Die linksradikalen Zengakuren agierten an den besetzten Universitäten mit rasierklingenverstärkten Bambusstöcken. Sie glaubten, durch einen Akt der Gewalt den historischen Zustand überwinden zu können, der in ihrer uralten Gesellschaft durch eine oberflächliche, von den USA gewaltsam übergestülpte Modernisierung eingetreten sei. Als Weg der Befreiung wählten die Zengakuren – parallel zur westdeutschen RAF – den Weg in den Terror.

Für Jiří Dienstbier war rückblickend »68« eine der schönsten Traditionen unserer modernen Geschichte, schreibt Weisskirchen. Es sei ein Nationen übergreifender Aufstand gewesen, ein »Kampf um die Freiheit.«. (281). Weniger optimistisch spricht Castellina – unter Bezug auf Paolo Mieli, ehedem Aktivist der Lotta Continua, heute Präsident der mächtigsten italienischen Verlagsgruppe, zu der der Corriere della Sera gehört – von dem verlorenen Glück der damaligen Jugendlichen, aus ihrer Einsamkeit herauszukommen und kollektiv zu handeln. Die „wirkliche Errungenschaft von »Achtundsechzig“ [sei] die Entdeckung der Politik und gleichzeitig der Subjektivität [gewesen], die notwendig ist, um sie zu praktizieren.“ (255) Angesichts der unter neoliberalen Vorzeichen etablierten Liaison von „Silicon Valley“ und Individualismus beklagt sie - ohne zu resignieren - den Verlust jener Erfahrung. Die Erinnerung an den Prager Frühling birgt die Hoffnung auf die Überwindung der auch in der liberalen Demokratie fortbestehenden Diskrepanz von Freiheit und etablierten Machtverhältnissen."

Jetzt auch als Text auf Globkult:

https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/2350-peter-brandt-gert-weisskirchen-hgg-sozialismus-mit-menschlichem-antlitz-der-aufbruch-in-der-tschechoslowakei-1968-in-seinem-historischen-umfeld,-bonn-verlag-j-h-w-dietz-nachf-2022,-287-seiten-herbert-ammon











Montag, 22. Januar 2024

Die Parteienlandschaft wird bunter

Es besteht Grund zur Aufregung. Nein, es geht nicht um die  - im Gefolge der vermeintlich verfassungsschützenden "Correctiv"-Aufdeckung des Potsdamer "Geheimtreffens"-  in den Städten inszenierten "Massendemonstrationen"gegen rechts sowie die entsprechenden Politikerreden. Demnach erleben wir wir in diesem Januar 2024 den Aufstand der "Zivilgesellschaft" gegen die drohende Wiederkehr der Hitlerschen "Machtergreifung"  am 30. Januar 1933. Es handelt sich um einen klassischen Fall von kognitiver Dissonanz, von bewusster Realitätsverkennung. Zwar liegt die AfD in den Umfragen seit Monaten stabil über 20 Prozent, aber an eine Regierungsübernahme unter einem Bundeskanzler Höcke - als eines Adolf redivivus - ist nicht im Traum zu denken. Selbst in den beiden östlichen Bundesländern, wo die AfD-Werte inzwischen bei weit über 30 Prozent liegen, wird es nach den Landtagswahlen im September d.J.  weiterhin an Koalitionspartnern  für eine Landesregierung mit der AfD an der Spitze fehlen. 

Die Frage ist vielmehr, ob und wie lange die "Brandmauer" aller Parteien gegen "die Rechten" hält, insbesondere, ob nicht doch irgendwann ein CDU-Politiker (sc. eine -in) in  Versuchung kommt, sich für das Amt des Ministerpräsidenten und die Bildung einer Minderheitsregierung von der AfD tolerieren zu lassen. Nicht minder spannend ist die Fage, in welchen Bundesländern  - außer in Thüringen und Brandenburg - die von der Wagenknecht-Abspaltung gebeutelte "Linke" noch über fünf Prozent und somit in die Landtage kommt, um dort, für lupenrein demokratisch befunden, als tapfere Mitstreiterin gegen die "braunblaue" Gefahr zu fungieren. 

Was in diesem Jahr in der politischen und medialen Klasse für begründete Unruhe sorgen wird, ist die Bewegung in der bundesrepublikanischen  Parteienlandschaft. Das gewohnte Bild - in der Mitte die beiden "Volksparteien", dazwischen die beiderseits umworbene FDP,  links davon die gesellschaftlich seit langem tonangebenden Grünen und als noch weiter links die als "Linke" demokratisch geadelte SED-Nachfolgepartei - ist bereits durch den Einzug der AfD in den Bundestag 2017, bestätigt bei den Wahlen im September 2021, verändert worden. Inzwischen haben sich im bayerischen Landtag und in Brandenburg sowie in einigen Kommunen die "Freien Wähler" als unerwünschte Konkurrenten der "konservativen" CDU und CSU etablieren können. 

Mit der Ankündigung einer Parteigründung mit dem konservativen Etikett "Werteunion" durch den einst von Angela Merkel als oberster Verfassungsschützer amtsenthobenen Hans-Georg Maaßen rutschen die bis dato als sicher geltenden Stimmenzahlen von 30 Prozent für die alte "Union" um einige Prozente nach unten. Wenn die in den ersten Umfragen zwischen sieben bis vierzehn Prozent veranschlagte Wagenknecht-Partei BSW ihre Sympathiewerte in Sitze in den Parlamenten umsetzt, werden vor allem SPD und die "Linke" Federn lassen, in geringerem Maße - als allgemein erhofft - die AFD.  Die derzeit bereits bei 15 Prozent angelangten Sozialdemokraten - seit langem kaum mehr als eine schwach rötlich angehauchte Variante der Grünen - könnte im einstelligen Bereich landen. In der FDP dürften sich - nach dem mißglückten Versuch, Lindner per Mitgliederbefragung zur Umkehr (bzw. zur Rettung der Partei aus der grünen Umklammerung in der Ampel) die letzten noch verbliebenen Nationalliberalen - und konsequenten Wirtschaftsliberalen - der Maaßen-Partei zuwenden, was die unter Lindner und Buschmann durchgrünten "Liberalen" in Absturzgefahr bringt. 

Mit womöglich nur noch 25 Prozent für die CDU/CSU reichte es angesichts einer derart zerklüfteten Parteienlandschaft weder für Merz noch für Söder oder Wüst selbst im Bündnis mit allen anderen - außer der AfD, versteht sich -  zu einer halbwegs tragfähigen Koalition. In den Landtagen, womöglich auch im Bundestag, werden fortan weder die Grünen den Ton angeben noch die FDP das Zünglein an der Waage spielen, sondern Wagenknechts BSW. Sofern dadurch eine Abkehr von der umfassend verhängnisvollen Politik der Ampel, zuletzt bewiesen durch die Verramschung der Staatsbürgerschaft, bewirkt werden kann, wäre dies die mutmaßlich letzte Chance unseres Landes für eine Wende zum Besseren.

Prognosen sind unsicher, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, wusste schon Karl Valentin. Eine Vorhersage kann angesichts der hier skizzierten Tendenzen bereits getroffen werden: Die deutsche Parteienlandschaft wird bunter werden, das politische System der "bunten" Bundesrepublik wird vielfältiger werden, die Debatten kontroverser, lebendiger und - hoffentlich - politisch fruchtbarer  als in den langen Jahren der grünen Hegemonie. Für die Ampel, für das linksliberale Establishment der Bundesrepublik, ist dies ein berechtigter Grund zur Aufregung.

Siehe auch: https://www.achgut.com/artikel/die_parteienlandschaft_wird_bunter