Dienstag, 5. April 2022

Assoziativ Kritisches zu einem Kriegskommentar

In einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung hat der Osteuropa-Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski sein Befremden darüber geäußert, wie schnell angesichts des Krieges in der Ukraine in der friedensgewohnten, von einer pazifistischen Grundströmung getragenen deutschen Gesellschaft ein Umschwung zu bellizistischen Sentiments erfolgt sei. "Ich habe mich gewundert, wie leichtfertig ausgerechnet in Deutschland über den Krieg gesprochen wird. Gestern noch wurde der Krieg verdammt und der Pazifismus beschworen, und heute schon ist von tapferen Helden, ruhmreichen Abwehrschlachten und vom nationalen Stolz der Verteidiger die Rede. Vor Wochen noch wären Bekenntnisse dieser Art mit Verachtung gestraft worden. Ich frage mich jedoch, ob die Feldherren, die im Lehnstuhl sitzen und kluge Ratschläge erteilen, eigentlich wissen, was eine Flugverbotszone ist und wie man sie sichert, was man sich unter einem Häuserkampf in einer zerstörten Stadt vorstellen muss und was die Entfachung der Leidenschaften bewirkt."  (https://www.nzz.ch/feuilleton/joerg-baberowski-aus-dieser-schwaeche-wachsen-die-unermesslichen-greuel-des-krieges-ld.1677580?)

Gegen diese Kritik an unbedachter, emotional gesteuerter Parteinahme erhob der Hannah-Arendt-Experte (und Globkult-Autor) Boris Blaha den Vorwurf, Baberowski bevorzuge -  auf Kosten einer "politischen Perspektive" -  eine distanzierte, " klassische akademische Perspektive". Eine solche akademische Perspektive werde im Hinblick auf den eklatierten Krieg der politischen Realität nicht gerecht: "Die Frage, was für uns auf dem Spiel steht" - eine das "Politische" umschreibendes Diktum Hannah Arendts - werde und könne im Rahmen dieser Perspektive nicht gestellt werden.

Blahas Facebook-Kommentar zu vermeintlich unstatthafter akademischen Zurückhaltung inspirierte mich zu einer in "ein paar kritische,  assoziative Gedanken" gefassten Replik. Die nachfolgenden, ad hoc formulierten Überlegungen zielen als Denkanstoß auch auf all jene, die eine umfassende, eben auch militärische Unterstützung der Ukraine fordern, um den russischen Aggressor in die Knie zu zwingen.

Baberowski spricht über die Spirale von mörderischer Gewalt, die aus dem Fehlschlag der von Putin als rapide und risikolos geplanten Invasion resultiere. Seine Perspektive auf den Krieg ist durchaus nicht teilnahmslos. Wer nicht selbst in den Krieg hineingerissen ist und den eigenen Tod ins Auge fassen muss, bezieht keineswegs eine emotionslose, akademische Perspektive. 

Er denkt über die Ursache(n), die grauenvollen Fakten, den möglichen Ausgang und - sofern sich nicht totaler Sieg oder völlige Niederlage der einen oder anderen Seite abzeichnet - über den daraus resultierenden, in der Regel faulen Frieden nach. Der Krieg ist - frei nach Clausewitz - meist, nicht immer, ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Das Ergebnis birgt sodann den Keim zu fortgesetzter Feindschaft und zu neuem Konflikt. Ausnahmen: die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts, der Wiener Kongreß, 1945.

Was steht "für uns"  auf dem Spiel? Vorab: Wer sind "wir"? Wir, die wohlstandsgewohnten Mittelklässler, unsere von russischem Gas abhängige Industrie sowie alle "die hier Lebenden"? Die Ampel-Regierung? Die friedensbewegten, postnationalen Deutschen, die ihre eigene politische Position in Europa nicht mehr bestimmen wollen oder können? Wer sind "wir", wer sind "die"? Wer ist der Feind? Der Verfassungsschutz hat Carl Schmitt verboten, also gibt es für uns - außer den in Putinisten und Asowisten gespaltenen, interbrigadistisch engagierten Neonazis - keinen Feind mehr.

Was also steht für uns auf dem Spiel? Da die Bundeswehr auf absehbare Zeit kriegsuntauglich ist, sind "wir" der Frage enthoben. Wir dürfen aber für die Ukraine spenden, wir dürfen uns mit Steinmeier schämen, uns als Kirchensteuerzahler (sc. K-ende) mit den Protestanten (sc. P-innen) schuldig fühlen, uns über die Bilder entsetzen und wider alle Hoffnung hoffen, dass das Spiel möglichst bald zu Ende geht.

Schon jetzt, nicht erst, wenn die Schrecken des Krieges in der Ukraine versiegen, findet ein politisches Spiel statt,  auf das "wir" - die selbst als Wahlvolk nur als Zuschauer am Spiel Beteiligten - leider keinen Einfluss haben. Wir dürfen aber auf unsere gründeutschen Eliten vertrauen, dass sie wissen, was auf dem Spiel steht.


 


 


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