Montag, 16. August 2021

Die Taliban in Kabul und das Unverständnis im Westen

Was sich in diesen Tagen in Kabul abspielt, und was mutmaßlich noch über Jahre das Land Land am Hindukusch prägen wird, war vorauszusehen. Wir erleben die Wiederholung eines klassischen Lehrbeispiels der Geschichte, und zwar die Niederlage des Westens oder der aufgeklärten Moderne gegen die Kräfte der Tradition oder des „finsteren Mittelalters“. Der schmähliche Abzug der Amerikaner, der Deutschen und anderer „Westler“ erscheint auf den ersten Blick als Reprise der chaotischen Flucht aus Saigon anno 1975. Es handelt sich indes um nicht identische Vorgänge.

In Vietnam kämpften antikolonialistische, progressiv - in gewissen Zügen also „westlich“ - orientierte, kommunistische Nationalisten gegen die antikommunistischen Regimeträger und deren in den Kategorien des Ost-West-Konfliktes befangene Schutzmacht USA. In Afghanistan traf seit den 1960er Jahren eine progressistische Minderheit - genauer: alsbald mit einander rivalisierende kommunistische Kräfte – auf die überwältigende Mehrheit einer Bevölkerung, die zwar vielfältig ethnisch – Paschtunen, Tadschiken, Hazaras, Usbeken etc. - getrennt, sogar verfeindet war, aber in Form eines lockeren („feudalistischen“) Personenverbandes – bis 1973 mit dem Paschtunen Zahir Schah an der Spitze – zusammengehalten wurde. Gemein war all diesen Stammesgesellschaften ihre Traditionsbindung, religiös fundiert und überhöht durch Spielarten des Islam.

Bereits unter der Paschtunendynastie gab es behutsame Versuche einer „Modernisierung“ von oben. Eine wichtige Rolle in der Ausbildung künftiger progressiver Kader spielte dabei die deutsche Schule in Kabul. Im Gefolge des Vietnam-Protests und der „68er-Bewegung“ fanden westliche „Blumenkinder“ in Kabul ihre Erfüllung in Haschischrausch und in Bewunderung unverstandener Religion. Es ist schwer zu ergründen, inwieweit auch diese Wahrnehmung des „Westens“ traditionalistische Abwehr im Lande hervorrief. Auf unzweideutige Ablehnung fast aller Bevölkerungsgruppen – unter Führung der traditionellen Machtträger in den Provinzen - stießen die von den kommunistischen Progressisten initiierten Reformen wie die einer Landreform und des Ausbaus der Elementarbildung in den Dörfern.

Von Anbeginn bedrohten Aufstände der diversen islamisch-fundamentalistischen Mudschahedin die sich in blutigen, ethnisch grundierten Machtkämpfen erschöpfenden kommunistischen Regimeträger der „Demokratischen Republik Afghanistan“. Schon vor dem Einmarsch der Sowjets in Kabul (24. Dezember 1979) hatten die Amerikaner mit ihrer Unterstützung von Aufständischen, darunter der später mit Al Qaida liierte Gulbuddin Hekmatyar, beabsichtigt, in der geopolitischen Schlüsselregion am Hindukusch der rivaliserenden Weltmacht eine Niederlage beizubringen. Der Abzug der Sowjets unter Michail Gorbatschow 1989 bestätigte den Erfolg ihrer Strategie.

Bereits vor dem Mauerfall verkündete Francis Fukuyama seine These vom „Ende der Geschichte“, was den weltweiten Siegeszug des westlichen Liberalismus, der Synthese von vermeintlicher Marktrationalität und Demokratie, bedeuten sollte. Spätestens am 9. September 2001 war dieses optimistische Zukunftsbild an der Wirklichkeit zerbrochen.

Als Samuel Huntington 1993/1996 seine „konservative“ Sicht der Dinge, die Existenz historisch-kultureller Bruchlinien samt der Gefahren eines „clash of civilizations“ präsentierte, schlug ihm die moralisch aufgeladene Entrüstung aller liberal und progressiv Gestimmten entgegen. Die Realität wurde ausgeblendet. Die nicht-rationalen, aus antiwestlicher, radikal religiöser Tradition gespeisten historischen Kräfte passen nicht in die vorgegeben Denkschablonen und Gefühlsraster. Folglich wird das Unverständnis der „diversen“ Wirklichkeit im Westen, vor allem in Deutschland, bestimmend bleiben.

Dem Sieg der Taliban in Afghanistan begegnen wir mit Ideologie und Gender-Sprech. Durch Zufall vernahm ich heute morgen im MDR folgende Nachricht (hier zitiert in ungefährem Wortlaut): „In Kabul versuchen zahlreiche Helferinnen westlicher Botschaften, Dolmetscherinnen, Journalistinnen und Lehrerinnen vor der Rache der Taliban zu fliehen.“




Montag, 9. August 2021

Die Taliban in Kundus und der gute Mensch im AA

Jeder, der sich in diesem "unserem" Land als Demokrat - in der lingua teutonica politica heute annähernd begriffsidentisch mit "Mensch" - bekennt, kennt und verehrt Heiko Maas, den guten Menschen im Auswärtigen Amt. Eitelkeit liegt dem Mann im Anzug mit engen Hosen fern, etwa wenn er sich uns auf einem Facebook-Foto vorstellt, wie er auf dem Fußboden eines Flures im New Yorker UN-Gebäude liegend noch an seiner (vom Redenschreiber produzierten) Rede "feilt", die Manuskriptseiten malerisch auf dem Boden verstreut.

Das war vor ein paar Monaten. Jetzt, nach dem Abzug aller Isaf-Truppen aus Afghanistan, wo die paschtunischen Glaubenskrieger zuletzt die  "deutsche" Schutzzone  Kundus eroberten, äußerte sich unser Außenminster zur Zukunft des seit über vierzig Jahren von Krieg überzogenen Landes. Maas pries die Leistungen unserer tapferen Soldatinnen und Soldaten, die mit ihrem Einsatz die Entstehung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft gesichert hätten. Die nunmehr in Menschen-, Frauen- und Freiheitsrechten versierten Menschen in Afghanistan würden die Taliban zur Einsicht bringen, von der Wiedererrichtung eines  Regimes wie vor zwanzig Jahren abzusehen.

Was die Folgen des überstürzten Rückzugs des "Westens" aus Afghanistan betrifft, darf ich die Leser (sc. -innen)  an meinen Kommentar vom 18. April erinnern (https://globkult.de/politik/welt/2053-der-abzug-aus-afghanistan-und-die-absehbaren-folgen). Ein eigener Kommentar zu Maas´ jüngster geistigen  Leistung im Dienste unseres Landes und der Menschheit ist an dieser Stelle unnötig. Stattdessen  empfehle ich  Henryk Broders Analyse der Maas-Rede auf der "Achse des Guten": https://www.achgut.com/artikel/hoechste_wertschaetzung_fuer_deutschland_aus_afghanistan