Wir dürfen annehmen, dass bis zum 27.
Juni 2018 der Masse der deutschen Fußballfans (mit oder ohne
Migrationshintergrund), nicht anders als großen Teilen der
bundesrepublikanischen classe politica, ganz zu schweigen von
Koryphäen wie Annalena Baerbock, Sawsan Chebli oder Jens Maier, Geographie und
Geschichte der Stadt Kasan unbekannt war. Zwar stellen manche
besorgte Kommentatoren in den Qualitätszeitungen den Schröder-Freund
Wladimir Putin zuweilen in eine russische Traditionslinie, die sie
auf Iwan IV. Grosny zurückführen. Der ob seiner
Herrschaftsmethoden im Westen als Iwan der Schreckliche bekannte, dem
Namen nach erste Zar der Reußen eroberte anno 1552 die
Tatarenfestung Kasan und zwang den muslimischen Khan zur Konversion. Doch was
soll uns Zeitgenossen die russische Geschichte? Wir, genauer: die
Minderheit der historisch noch interessierten Biodeutschen – haben
mit unserer verkorksten Geschichte genug zu tun.
Derlei Selbstzweifel sind dem Rest
unserer Fußballnation in der Regel fremd oder waren es zumindest bis
zum obigen Datum. Die Fans, das gesamte Fernsehvolk war stolz auf
unsere Mannschaft, wir waren Weltmeister und wollten es mit Jogi
Löws Truppe wieder werden. Wir freuten uns mit Angela Merkel auf den
Endsieg.(S.: https://herbert-ammon.blogspot.com/2018/06/merkels-truppe-vor-dem-endsieg.html) Für Theoretiker der modernen Demokratie, selbst für
linksliberale, galt der deutsche Fußballstolz als akzeptabler
Wesenskern deutscher Identität. Für gewissen Unmut sorgten zwar die
Bilder von Özil und Gündogan mit „ihrem“ Präsidenten, aber die
politisch zweckdienliche kollektive Hoffnung auf deutsches
Siegesglück, Siegesglanz und Gloria wurde erst an jenem Tag in Kasan
zunichte, als Südkorea „unsere“ matte Mannschaft aus dem Turnier
warf.
Seither füllt die Debatte um Özil, um
Özils Millionen und um Özils Frömmigkeit, um deutschen Rassismus
und Erdogans Pluralismus, um die Demokratieverträglichkeit
gespaltener – oder verweigerter – Identität(en) das Sommerloch,
dazu die Bilder geretteter refugees und jubelnder militanter
Migranten. Die Fußballkrise vermengt sich mit der Flüchtlingskrise.
Die Brisanz der miteinander verquickten Fragen haben – im Hinblick
auf die Wahlumfragen – nicht nur die Grünen erkannt, sondern auch
der Bundespräsident sowie der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle,
zuletzt inzwischen selbst die von diesem gerügte CSU-Führung.
Merkels Außenminister Maas erinnert an
Özils Millionenverdienst in England - genauer: bei dem von einem der
russischen Oligarchen mitfinanzierten Club Arsenal London – und
möchte die ganze Geschichte zu einer Bagatelle herabstufen. Das ruft
Entrüstung bei Altkanzler Schröder hervor, der als Vertreter der
Bundesregierung bei der Vereidigung des türkischen Präsidenten
sowie als führender Gazprom-Vertreter bzw. Nordstream-Vorstand auch
über zwischenmenschliche Beziehungen zu Özils Präsidenten
verfügt. Usw.
Die „Katastrophe“ von Kasan – die
Hauptstadt der Republik Tatarstan liegt etwa 1000 km nördlich von
Wolgograd/Stalingrad/Zarizyn - erweist sich so doch noch als Glück für die
politisch-mediale Klasse. Sie eignet sich trefflich, um das
populistisch erregbare „Volk“ von den bedrängenden
Zukunftfragen, von den realen politischen Fragen – Demographie und Demokratie, außereuropäische
Immigration und kulturelle Integration, Islam(isierung) und postchristliche Säkularisierung, Massengesellschaft und
politische Loyalitäten angesichts ethnisch-kultureller Spaltungen -
abzulenken und bei Laune zu halten.
Die „richtige“ Sicht der Dinge –
die Auflösung des Problemkomplexes in Wohlgefallen – liefert
Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ (in seinem Leitartikel vom
26.07.18, S.1): „Wer verlangt, eine von Ausländern abstammende
Person müsse, um Inländer zu werden, irgendwie mit den Deutschen
und deren Kultur verschmelzen, ist genauso wenig bei Trost wie
diejenigen, die behaupten, Multikulturalität und die
Einwanderungsgesellschaft seien ohne Vorurteile, Distanznahmen und
Härten vorstellbar.“ Distanz zu derlei Perspektive sollte noch erlaubt
sein. Sonst wird diese Geschichte noch vollends trostlos.