Mittwoch, 1. April 2015

Über nationale Identität in der postnationalen Einwanderungsgesellschaft

I.
Geht es nach dem Umfang  des - mehrheitlich indes bereits ergrauten - Publikums, das sich in der letzten Märzwoche im "Kohlenkeller" am Mexikoplatz in Berlin-Zehlendorf zusammenfand, so geniesst das Thema "Wie definiert Deutschland seine 'nationale Identität'?" in der postnationalen Bundesrepublik nach wie vor hohe Aktualität. Als Podiumsgäste waren der SPD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus  Raed Saleh und der Historiker Peter Brandt geladen, aus guten Gründen.

Saleh ist vor einigen Wochen mit einem Aufsatz in der FAZ hervorgetreten, in dem er von einer Episode berichtete, wie er dereinst als Schüler bei einer (politischen?) Veranstaltung in einem Spandauer Vereinslokal zum Erstaunen, ja Missfallen der anwesenden Ethno-Deutschen eine heruntergefallene schwarz-rot-goldene Fahne ("Deutschlandfahne") wieder befestigte. Roland Wehl, Gastgeber im "Kohlenkeller",  rezitierte jene Passagen aus Salehs Artikel, in dem der Autor ein patriotisches Bekenntnis zu dem von seinen palästinensischen Eltern als neue Heimat erwählten Land ablegte und eine solche patriotische Zuwendung als Voraussetzung für gelungene bzw. gelingende Integration für alle - gleich, ob  Stamm- oder Neubürger -  im "Einwanderungsland" Deutschland proklamierte.

II.
Peter Brandt erläuterte  sein in antifaschistisch-antinazistischer Familiengeschichte, in Kindheits- und Jugenderfahrung, nicht zuletzt in historisch-wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Geschichte eines "schwierigen Vaterlands" gewonnenes  "nationales" Selbstverständnis (anstelle des womöglich  zu verengender Interpretation einladenden Begriffs "nationale Identität"). Als historische Wegzeichen eines demokratischen Patriotismus sind die antinapoleonische Nationalbewegung, die 1848er Revolution und die Paulskirche - der in vorderer Reihe plazierte Volker Schröder, Initiator des "Nationalfeiertags 18. März" wird' s mit Wohlgefallen vernommen haben -, die Weimarer Republik sowie der deutsche Widerstand gegen das NS-Regime - im Empfinden der Regimegegner eine schändliche Befleckung des patriotischen Selbstbildes -, last but not least die in den Mauerfall mündende deutsche Geschichte 1949-1989 der Erinnerung wert.

In sympathischer Manier, getragen von optimistischem Charakter,  plädierte Saleh für einen unbefangenen, zukunftsoffenen Patriotismus in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Das spezifisch deutsche historisch-politische Grunddilemma - die "Bewältigung" der  Nazi-Vergangenheit - scheint er für überwindbar zu halten: Auf der einen Seite berichtete er von wiederholten Fahrten nach Auschwitz, ins Zentrum der deutschen Schreckensgeschichte (und Epizentrum der - teils realen, teils angesonnenen - negativen nationalen Identität der deutschen "Mehrheitsgesellschaft"). In Auschwitz-Birkenau hätten Klaus und Mustafa, Aische und Claudia gemeinsam in stummem Entsetzen vor den Relikten des Grauens gestanden. Aus der Wahrnehmung des namenlosen Verbrechens erhebe sich bei allen Jungen für die gemeinsame Zukunft die innere Stimme des "Nie wieder" - im Hinblick  auf die ethnisch-kulturell bedingten Massaker der letzten Jahrzehnte eine nicht ohne weiteres anwendbare Ausdeutung der Klassenfahrten in die deutsche Vergangenheit.

Auf der anderen Seite rühmte Saleh - als positives Identifikationsbild für alle - das einzigartige deutsche Kulturerbe "mit Schiller und Goethe". Dazu  empfahl er zur Stiftung eines  gesamtnational verbindenden Gemeinschaftsgefühls den  fröhlich unbeschwerten, "patriotischen" Geist, wie er etwa auf der Berliner "Partymeile" bei der Fussball-WM 2006 zu erfahren war. Im Blick auf "Pegida" meinte er: "Wir waren da schon mal weiter..." Als Antidotum zu "Pegida" und ähnlichen Tendenzen setzt sich der Integrationspolitiker Saleh für Staatsverträge - analog zu dem verfassungsrechtlich gesicherten Status der Kirchen - mit den muslimischen Gemeinschaften ein. Dass der Teufel hierbei im Detail steckt, in den vielfàltig konkurrierenden, ja feindselig nebeneinander existierenden islamischen und sonstigen "communities"  - Sunniten und/oder Schiiten unterschiedlicher Ausprägung, Alewiten, Drusen, Jesiden etc. - , ist ihm vermutlich bewusst. Allerdings werden derlei Widersprüche  von Protagonisten der Immigration/Integration gerne ignoriert,  denn sie passen nicht recht in  ein mediengerechtes politisches Progamm.

Saleh, selbst ein säkularer Moslem, plädierte sodann dafür, die Ausbildung von Religionslehrern und/oder Imamen nur noch an deutschen Hochschulen stattfinden zu lassen. Der materielle und ideologische Einfluss der Saudis - ein mit Rücksicht auf deutsche Autofahrer und amerikanische geostrategische/geopolitische Interessen in den politisch-medialen "Diskursen" gewöhnlich gemiedenes Thema - sowie der türkischen Religionsbehörde Ditib müsse beendet werden. Sein Wort in Allahs Ohr!

III.
Wie so oft bei derlei "diskussionsoffenen" Veranstaltungen vermochten die Beiträge aus dem Publikum das Thema nur in bescheidenem Masse zu vertiefen. Während Saleh das frühzeitige Erlernen der deutschen Sprache in Kitas (=Kindertagesstätten) für unverzichtbar erklärte, propagierte eine wohlmeinende Dame mehr -  mutmasslich intelligenzförderlichen -   bilingualen Unterricht mit Türkisch, Arabisch  und Kurdisch als Integrationsprojekt, ohne  die anderen - cum grano salis - 189 Nationalitäten/Ethnien/minorities von Mitmigranten zu berücksichtigen.  Umgekehrt betonte eine andere Teilnehmerin die Bedeutung des Deutschen als Voraussetzung für ein integratives (zumindest funktionales, H.A) Miteinander.

Die Realität brachte ein Mann, Jahrgang 1940, der seinen Lebensunterhalt nach wie vor mit Taxifahrten bestreiten muss, zur Sprache: An den begehrtesten Haupthaltepunkten, obenan Flughafen Tegel, fänden sich ganz selbstverständlich die Kollegen entsprechend ihrer Herkunft in ethnischer Gruppensolidarität  zusammen. Von der Kommunikation ausgeschlossen blieben die diszipliniert eingereihten ethnodeutschen Droschkenfahrer.

Die reale gesellschaftliche  Praxis steht nicht nur auf Berliner Schulhöfen in Widerspruch zum angestrebten Integrationsideal, für welches der Politiker Saleh auch den Begriff  "Deutsche mit Migrationshintergrund" ausser Kurs setzen möchte. Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten sollten sich ohne Multikulti-Illusionen zukunftsorientiert  wie in einer "Salatschüssel" - begrifflicher Import aus den USA, wo derzeit die "salad bowl" den älteren "melting pot" ersetzen soll - vermengen,  mit dem Stolz auf das Land und die "Werte" des Grundgesetzes. Voraussetzung jeglicher "Integration" sei die Einhaltung von Regeln, von Rechtsnormen - anders als beim unendlich währenden "Refugee Camp" am Oranienplatz.

IV.
Wie derlei Zukunftsvision zu verwirklichen sei, wenn - losgelöst von der Flüchtlingsproblematik - alljährlich an die 500 000 wirtschafts- und demographieförderliche Migranten aus aller Welt aufgenommen werden sollen, blieb in dem wie üblich knappen Diskussionsteil leider unreflektiert. Immerhin gab Peter Brandt zu bedenken, dass in der Vergangenheit "Integration" von Einwanderern (oder Zuzüglern von innerhalb der realen Staatsgrenzen) auf Assimilation hinausgelaufen sei. - Es bedarf keiner arithmetischen Begabung, zu ermitteln, wann im Einwanderungsland Deutschland aus der "Mehrheitsgesellschaft" eine Minderheit geworden sein dürfte. (Zu der damit verknüpften zivilreligiösen Problematik siehe meinen Aufsatz in  Globkult: http://www.globkult.de/herbert-ammon/986-fragen-zu-deutschem-gedenken-unter-den-bedingungen-einer-neuen-gesellschaft)

Die grundlegende Frage, wo die politischen und kulturellen Loyalitàten ("Identitäten") der multiethnischen Neudeutschen verwurzelt sind, blieb im "Kohlenkeller" unausgesprochen. Dabei treten die diversen politischen Emotionen in der bundesrepublikanischen Gegenwart. bei .jedem Aspekt des nahöstlichen Krisenensembles handgreiflich hervor. Wie sodann die Integration der globalistischen Migranten vermittels der neudeutschen "Willkommenskultur" - eine Melange aus Fussballbegeisterung, Konsumismus und negativ-deutscher "Gedenkkultur" - zu erreichen sei, wissen die das "Projekt" befördernden "Eliten" aus Wirtschaft und Politik mutmasslich selbst nicht so genau.

Warum auch? Auf Staatsbesuch in Indien empfahl unser Bundespräsident Gauck  unlängst  den milliardenstarken Bewohnern des Subkontinents unser für strebsame Einwanderer "weltoffenes" Land, oder so ähnlich.

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