Dienstag, 19. Dezember 2023

Weihnachtliche Leitkultur unter Fachkräftemangel

I.

Mit distanziertem Interesse sehen wir den anstehenden Veranstaltungen zur Pflege der deutschen Leitkultur entgegen. Auf dem Programm stehen die -  bereits auf Konserve aufgenommene - Weihnachtsbotschaft des Bundespräsidenten Steinmeier sowie die entsprechende TV-Ansprache des Bundeskanzlers Scholz zu Neujahr. 

Die von den Festtagsredenschreibern verfassten Texte fürs Volk  umfassen vorhersehbar folgende Themen: 1) unser aller Erschütterung über den Horror des 7. Oktober und den Krieg in Gaza 2) die Erinnerung an die von Putin ausgelöste Zeitenwende und die demokratische Pflicht zur unzweideutigen Unterstützung für die Ukraine, dazu die Hoffnung auf baldigen Frieden 3) der Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die fast siegreich aus Mali zurückgekehrt sind. Denn 3a): Frieden und Freiheit sind ein Geschenk, das demokratische Opferbereitschaft voraussetzt 4) die Verpflichtung zu Toleranz und allseitigem Respekt in unserer vielfältigen Gesellschaft auf der Basis unserer grundgesetzlichen Werteordnung  5) die Warnung vor den Versuchungen des Populismus und den Gefahren des Extremismus als Lehre aus der deutschen Geschichte.

Womöglich steht noch die Klimakrise im Themenkatalog. Denkbar ist ein besänftigendes Wort bezüglich der - nunmehr aufgrund der in Brüssel noch vor dem Fest beschlossenen restriktiven Kontrolle der EU-Außengrenzen vermeintlich behobenen - Asylkrise, verknüpft mit dem  Hinweis auf die für unsere wirtschaftliche Zukunft unseres Landes unerlässliche Einwanderung - nicht etwa "Zuwanderung" - von Fachkäften. Ermahnende Worte zum Bildungsstand des Volkes im Zeichen von PISA 2023 gilt es zu vermeiden. Auch der - von CDU-Chef Friedrich Merz mit "Leitkultur" assoziierte -  Begriff "Integration" sollte als Textbaustein keine Verwendung finden. Er könnte Fragen aufwerfen und die Feiertagsstimmung der postchristlichen Deutschen trüben.

II.

Die schon zeitlosen Themen "Fachkräftemangel" und "Integration" erhellen zwei jüngst erfahrene Episoden. In Parenthese: Anekdoten ("Einzelfälle") ergeben noch keinen aussagestarken Datensatz. Gleichwohl, sie erhellen des sozial-kulturellen Zustands unseres Landes.

Erste Episode: Im Büro meiner stets - Stichwort "Wintercheck" - zuverlässigen Autowerkstatt (Familienbetrieb) werde ich Zeuge einer eindringlichen Rede, die der Chef an einen etwa zwanzigjährigen Mann -  mit zwanzig Jahren standen ehedem die meisten Jungen längst im Beruf -  adressiert. Es geht um die Voraussetzungen einer Ausbildung zum Mechatroniker, um Lern-, Leistungs- und Gewissenhaftigkeit. Die Vermutung, der junge Mann habe sich soeben um eine Lehrstelle beworben, erweist sich als irrig. Er ist soeben gefeuert worden. Trotz mehrfacher Ermahnung/Abmahnung, zuletzt am Vortag, hat der Azubi, gebürtiger Deutscher, nach progressiver Terminologie POC, erneut "verschlafen". Wegen ähnlicher Versäumnisse ist ihm bereits an zwei früheren Lehrstellen gekündigt worden. Er habe dies mit "Ausländerfeindlichkeit" begründet, was ihm wohl auch für diese verpasste Chance in einer Werkstatt, in der hauptsächlich Mechaniker mit Migrationshintergrund arbeiten, als Ausrede dienen dürfte. Der junge Mann, soeben noch mit betretener Miene, verlässt den Raum, setzt sich in einen angejahrten, voluminösen BMW und rast wutentbrannt mit quietschenden Reifen über eine Linkskurve davon. Eine Fachkkraft weniger...

Zweite Episode: An der Theke zum Zuschneiden von Holzplatten in einem Baumarkt bin ich einem kräftigen, bärtigen Mann mit Migrationshintergrund beim Lösen einer Wartemarke aus einem Automaten behilflich. Er bedankt sich mit verlegenem Lächeln. Während sich das Warten auf das elektronische Signal über der Theke hinzieht, fällt mir auf der Brust des Mannes dessen kulturelles Markenzeichen ins Auge: am Halsband das Schwert des Islam. 

III.

Ist der Gedanke erlaubt, dass derlei Insignien zwar kulturelle "Vielfalt" demonstrieren, der "Integration" in unsere Wertegemeinschaft leider entgegenstehen? Ob es sich bei dem bärtigen Mann um eine Fachkraft handelte, war am Erscheinungsbild nicht zu erkennen. Falls der Bundespräsident wider Erwarten am Weihnachtstag das Thema "Integration"  ansprechen sollte, dürfte er - nicht nur aus Zeitgründen - darauf verzichten, ins politisch reale Detail zu gehen. 

Montag, 4. Dezember 2023

Über die Grenzen der Moral in einer Welt ohne Grenzen

I.

Für Leser (sc. -innen, ohne Gender*), die nicht bereits meinen Globkult-Beitrag zum Thema "Moral ohne Grenzen" gelesen haben, bringe ich ihn nachfolgend noch einmal zur Kenntnis. Was die unten dargestellten aktuellen Ausgaben für Migranten betrifft, so gibt es noch eine unbelegte, weit höhere Zahl von 50 Mrd. €. Welche Kosten - und Nachfolgekosten infolge der unverminderten "Asylkrise" anfallen, ist in der Tat schwer zu ergründen. Die evidenten menschlichen, materiellen und politischen Kosten -  die scheiternde Integration von integrationsverweigernden Immigranten - werden von der politisch-medialen classe diregente ohnehin heruntergespielt oder als "rechte" AfD-Propaganda abgetan. 

Vor diesem Hintergrund rückt in der -  je nach Wahrnehmung durch Schneefall weihnachtsliedermäßig besonders schönen oder von Unfällen, steigenden Energiekosten und Bahnausfällen beeinträchtigten - Weihnachtszeit der Zustand der Kirchen ins Bild. Er ist geprägt von hypertrophen Moralansprüchen und schwindender gesellschaftlicher Relevanz. Was den jahreszeitlichen Appell an unser aller Gewissen betrifft, so verweise ich zur Vermeidung von Redundanz auf meinen meinen letztjährigen Kommentar zum säkularen Ablasshandel: https://herbert-ammon.blogspot.com/2022/11/ablasshandel-zur-weihnachtszeit.html

Unklar bleibt die Frage - wenngleich angesichts der sehr unterschiedlichen Kriegslagen in der Ukraine und  im Gaza-Streifen  in aller zu erwartenden Unklarheit immerhin verständlich -, die Frage, wie denn die Friedensbotschaft der Kirchen und - unter dem Aspekt künftiger deutscher "Kriegstüchtigkeit" - die Weihnachts - und Neujahrsbotschaft von Bundeskanzler Scholz sowie von Bundespräsident Steinmeier ausfallen wird. Mit den von früher her gewohnten Moralappellen an das (post-)deutsche Volk und die Welt wird es jedenfalls nicht getan sein. 

II.

Alles hängt mit allem zusammen: Die durch das Karlsruher Urteil verhinderte Umschichtung der 60 Corona-Milliarden und die Lockerung der Schuldenbremse; Lindners Kehrtwendung beim Thema Schuldenbremse und Kubickis Kreuzfahrt-Bekenntnis zum liberalen Glaubenssatz solider Staatsfinanzen; der frühe Wintereinbruch -  vor dem globalen Klimawandel in unseren Breiten völlig normal - und die wegen Greta Thunbergs BDS-Bekenntnis - vorerst - in eine Krise geratene deutsche Klimarettung; die "Asylkrise" und die Sorge der Grünen-Parteispitze um die Ampel und um grünen Machtverlust angesichts der ewig jugendlichen, von grenzenloser Moral beseelten Parteibasis; der Rücktritt der EKD-Vorsitzenden Annette Kurschus und die Erosion der Kirchen in der postchristlichen Gesellschaft.  

Kritiker mögen diese Assoziationskette für weithergeholt, für gedankliche Willkür halten: Was hat die Aufhebung der grundgesetzlichen Schuldenbremse, der frühe Winter mit der Krise der Kirchen zu tun? Den roten Faden liefert der politisch aufgeladene Begriff von Moral. Der Reihe nach: Wegen des Urteils des BVerfG fehlen der Ampel mindestens 60 Mrd. Euro in ihrem Haushalt, die durch vorläufige  - vorläufig bis zur angestrebten Änderung des Grundgesetzes - Aussetzung der Schuldenbremse ersetzt werden sollen. Keine Milchmädchenrechnung, sondern schlichtes Faktum: Die Ausgaben für   "Geflüchtete"/"Flüchtende" (a.k.a. Migranten) belaufen sich im Jahr 2023 auf 27,6 Mrd. € pro Jahr, davon 10,7 Mrd. für die - sinnvolle, aber offenkundig wenig erfolgreiche - Bekämpfung von Fluchtursachen. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/665598/umfrage/kosten-des-bundes-in-deutschland-durch-die-fluechtlingskrise/)

Das reicht Open-Border-Aktivisten wie der Jugendbasis der Grünen natürlich nicht aus, denn ihre Forderung nach offenen Grenzen für alle erfordert einfach höhere Summen. Zwar widersetzten sich auf dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe Habeck, Ricarda Lang und selbst Göring-Eckardt der junggrünen Globalmoral, aber an den Fakten wird sich  hierzulande wenig ändern. Ein paar Abschiebungen mehr, von Nancy Faeser lautstark angekündigt,  bestätigen nur die bestehende Praxis.

III.

Kaum anders als die von aggressiver, realitätsferner Moral getragene grüne Jugend äußerte sich unlängst noch die  inzwischen wegen innerkirchlich noch ungeklärter Fragen - wieviel Bisexualität ist im Blick auf die LGBTQ-Bewegung einerseits, auf 1. Korinther 6, 1-11 andererseits, passabel? - zur Sexualmoral zum freiwilligen Amtsverzicht genötigte Kirchenchefin Kurschus. In einem - vor Bekanntwerden der protestantischen Missbrauchsgeschichte - in der FAZ publizierten Interview bekannte sie sich zur Klimarettung und zu United4Rescue - das Schiff "Humanity" liegt derzeit wegen fehlender Spendengelder für Diesel aus Deutschland im Hafen von Syrakus fest -, zur Nächstenliebe für die nicht zuletzt wegen des katastrophalen Klimas in subtropischen, tropischen, ariden, alpinen und sonstigen Zonen übers Mittelmeer zu uns (in "unser reiches Land") flüchtenden Migranten. (Siehe dazu meinen noch vor Kurschus´ Rückzug verfassten Kommentar: https://www.globkult.de/gesellschaft/identitaeten/2328-realitaetsverweigerung-als-frohe-botschaft). Erwähnt sei noch, dass sie auch eine Streichung der Kompromissformel von § 218 ("rechtswidrig, aber unter bestimmten Umständen straffrei") und eine Ausweitung der Fristenregelung auf fünf Monate propagierte.

Die Ex-Kirchenchefin interpretierte ihren Rücktritt als persönliches Opfer, um Schaden von der Kirche abzuwenden. An derlei Apologie nahm der Facebook-Autor Reinhard Klingenberg - vor seiner Ausbürgerung aus der DDR Anfang der 1980er Jahre Vikar in Thüringen - Anstoß. Er frage sich, "was das für eine christliche Grundhaltung ist." Kurschus habe jahrelang "den Missbrauch unter den Teppich gekehrt". Daraufhin meldete sich ein anderer Fb-friend zu Wort. Ihm missfiel, dass "Kurschus dem Rest des Landes [habe] vorhalten wollen, wieviele Flüchtlinge aus Afrika wir noch aufzunehmen haben. Brett-vorm-Kopf-unter-Strom und Kurzschluß sind leider typische Vertreter einer Kirche, die das eigentliche Ziel aus den Augen verliert: Seelsorge und Hilfe für die hier lebenden Menschen anstatt Rettungsschiffe für das Mittelmeer kaufen." 

Klingenberg wies derlei Polemik zurück als "ein seltsames christliches Verständnis, was Du da propagierst! Nächstenliebe kennt keine Grenzen und wir haben nur eine Welt" usw. Sodann das säkulare, protestantisch-pietistisch eingefärbte Confiteor: "An den Krisen dieser Welt haben wir (!) ja selber einen nicht unerheblichen Anteil." Am Ende traf der Bannfluch den ungläubigen Fb-Genossen: "Was Du da verkündest (,) ist AFD-Geschwurbel und Trumpismus!"

Der frühere Vikar ist  - stellvertretend für manch andere Protagonisten schlichter Gesinnungsethik - an die im Gefolge der "Flüchtlingskrise" anno 2015 von dem Theologen Richard Schröder (SPD-Vorkämpfer der deutschen Einheit in der frei gewählten Volkskammer 1990) vorgetragene Kritik an grenzenloser Migration zu erinnern. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25–37) explizierend, betonte Schröder wiederholt die Pflicht und die Grenzen christlicher Hilfeleistung. (https://www.globkult.de/politik/deutschland/1428-was-wir-den-migranten-schulden-und-was-nicht?)https://www.nzz.ch/international/ungerechte-seenotretter-theologe-richard-schroeder-im-interview-ld.1504989) Selbst die Ex-Kirchenchefin musste im erwähnten Interview einräumen, dass die Nächstenliebe - sprich Aufnahmebereitschaft - bei einer "Selbstaufgabe" an ihre Grenze stoße.  

IV.

In dem Facebook-Disput ging es auch um die für Klingenberg unzulässige Verknüpfung von sexuellem Missbrauch und der Flüchtlingsproblematik. Tatsächlich besteht ein Zusammenhang in der - nicht nur - protestantischen Psychologie: Der Anspruch auf absolute Moral schützt - bis zum peinlichen Nachweis der Verfehlung der Wirklichkeit - vor Selbstzweifel.

Unter Bedford-Strohm und unter Kurschus an der Spitze der EKD wurden die von Richard Schröder verantwortungsethisch definierten Grenzen christlicher Moral verwischt. Was kommt nach Kurschus? Eine Antwort auf diese Frage ist erst im nächsten Kirchenjahr zu erwarten. 

Die vielen anderen bedrängenden Fragen werden aller geschichtlichen Evidenz nach nicht nach moralischen Maximen, sondern - meist moralisch verbrämt - mit Machtmitteln beantwortet. Das passt nicht ganz zum grünen deutschen Glauben.


Freitag, 1. Dezember 2023

Henry Kissinger - anstelle eines Nachrufs

Alle Zeitungen der Welt, gedruckt oder nur noch online, widmen in diesen Tagen dem mit 100 Jahren verstorbenen Henry Kissinger umfangreiche Nachrufe. Dem Lesepublikum meines Blogs empfehle ich den Aufsatz des New York Times-Autors Davd E. Sanger zu einer ausgewogenen Beurteilung der Leistungen und der Fragwürdigkeiten des außergewöhnlichen Staatsmannes: https://www.nytimes.com/2023/11/29/us/henry-kissinger-dead.html?

Kissinger verstand sich als Protagonist des historischen und politischen Realismus. In seinen Büchern wie in seiner politischen Praxis wandte er sich gegen hochfliegenden Idealismus, wie er ihn im "Wilsonianismus" ("the war to end all wars"; "ro make the world safe for democracy") verkörpert sah. Letztlich bedeutete dies auch die Zurückweisung der Idee Kants vom ewigen Frieden. Kritikern erschien sein persönliches Machtstreben, erst recht seine Machtpolitik im Dienste der Weltmacht USA als amoralischer Machiavellismus, was zumindest für Kissingers Leitbegriff eines von Mal zu Mal zu tarierenden machtpolitischen Gleichgewichts in der Staatenwelt nicht zutrifft. 

Sein Konzept einer auch noch im 21. Jahrhundert praktikablen Weltordnung entwickelte er 2014 unter dem Stichwort "Westfälischer Frieden" (siehe dazu meinen Rezensionessay https://www.iablis.de/iablis/themen/2016-die-korruption-der-oeffentlichen-dinge/rezensionen-2016/115-kissingers-amerikanische-weltordnung). Leadership  verband er in seinem letzten Buch (2022) - unter dem deutschen Titel erschienen als "Staatskunst" - mit den Namen Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar as-Sadat, Lee Kuan Yew und Maragaret Thatcher.

Als Historiker beschrieb Kissinger, ausgehend von der "realistischen" Großmachtdiplomatie auf dem Wiener Kongress, die Wirkkraft der Fakten und sparte mit der Ausgestaltung von Hypothesen oder kontrafaktischen Überlegungen. Anstelle eines weiteren Nachrufs sei die Überlegung gestattet: Was wäre aus Henry Kissinger - geboren im deutschen Krisenjahr 1923 in Fürth, 1938 vor den Nazis aus Deutschland geflohen -, was wäre aus dem Land seiner Geburt geworden, wenn anno 1933 nicht die "Machtergreifung" Hitlers - realiter die aus einem Intrigenspiel resultierende Machtübertragung - stattgefunden hätte?