I.
Beim obligaten - erstmals wieder Coronafreien - Gottesdienst an Heiligabend, war an der Gestaltung - bis auf ein mir in Text und Melodie unbekanntes Lied erkennbar jüngeren Datums - wenig auszusetzen. Allerdings war die Darbietung der Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 nicht so recht nach meinem Geschmack. Der Text wurde - im Wechsel von zwei Gemeindegliedern - stückchenweise in kurzen Verszeilen rezitiert, worauf jeweils die knappe Exegese der nichtgrünen Pfarrerin folgte.
Da ging es naturgemäß um den im Römischen Reich zur Steuerzahlung verpflichteten Josef aus Nazareth, der sich - ohne Seitenhieb aufs Patriarchat - mit der schwangeren Maria nach Bethlehem in die Stadt Davids aufmachen muss. Immerhin diente der Steuereinzug - ohne relativierenden Bezug auf die Pax Augusta - der Finanzierung und Bereitstellung von Soldaten zur Aufrechterhaltung unterdrückerischer Ordnung im riesigen Imperium Romanum. Dass die Heilige Familie nur notdürftige Unterkunft in einem Stall fand und dass Maria ihr neugeborenes Kind, den Gottessohn, in eine Krippe legen musste, gehört zum wunderbaren Drama der Menschwerdung Gottes, ebenso wie die sozial randständigen Hirten auf dem Felde.
Mit dankbarer Erleichterung vernahm der Gottesdienstbesucher die Friedensbotschaft der Himmlischen Heerscharen. Denn Klage und Gebet über weltweite Not, Elend und Krieg in der Ukraine mündeten nicht etwa in christlich eingefärbte Parolen zur Wiederherstellung des Friedens gegen den Aggressor Putin, sondern in kritische Fragen und Zweifel bezüglich der nunmehr allerorts betriebenen Rehabilitierung von Waffen für Zwecke des Friedens, für den Sieg des unzweifelhaften Guten. Verhaltene Zweifel an grüner Kriegsbereitschaft zu vernehmen, ist mehr, als was man in der Zeit der deutschen "Zeitenwende" erwarten kann.
II.
Auf die Weihnachtszeit 2022 fiel - in den Medien nicht zufällig nahezu unerwähnt - das Gedenken an die Schlacht von Stalingrad vor achtzig Jahren. Durch Zufall stieß ich im Internet auf ein Interview, das - ausgehend von einem als Spiegel-Bestseller virgestellten Buch von Tim Pröse "...und nie kann ich vergessen" (2022) - der österreichische Autor Markus Leyacker-Schatzl mit Hans-Erdmann Schönbeck, im Alter von hundert Jahren einer der letzten Überlebenden der Schlacht, führen konnte. (https://www.youtube.com/watch?v=z5aR91jyTlk).
Das Interview ist im besten Sinne ein Zeitzeugen-Dokument. Es besticht zum einen durch die Sensibilität des Fragestellers, zum anderen durch die geistige Präsenz und sprachliche Präzision des von Altersgebrechen gezeichneten, im Rollstuhl sitzenden Mannes. Es vermittelt ein Bild von der Realität des - von dem Kriegsüberlebenden Schönbeck als verbrecherisch charakterisierten - Krieges anno 1942/43. Als zwanzigjähriger Panzersoldat nahm der antinazistisch erzogene Schönbeck - voll Mitgefühl für das schlimme Schicksal Abertausender von sowjetischen Gefangenenen - noch mit einer gewissen Euphorie am großen Vormarsch auf die Wolga teil. Das Elend des Krieges, nicht zuletzt die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung, erfuhr er in Stalingrad. Mit einer schweren Rückenverletzung gehörte er zu den letzten, die im Januar 1943 aus dem Kessel ausgeflogen wurden.
Zu den ihn bis heute quälenden Erinnerungen gehörte eine Szene, in der er inmitten einer Sommerschlacht (mutmaßlich 1942) - zum einzigen Mal unmittelbar, bewusst und "alternativlos" angesichts der Schlacht - einen aus einer Getreidehocke brenned hervorstürzenden russischen Soldaten durch Befehl zu einem MG-Feuerstoß töten ließ.
Im Interview bleibt offen, ab wann der Leutnant Schönbeck Überlegungen zum Widerstand anstellte. Als sich ihm anläßlich einer großen Vereidigungsinszenierung in der Jahrhunderthalle zu Breslau die Chance zu einem Attentat auf Hitler bot, brachte er es, umringt von SS-Leuten, im entscheidenden Moment nicht fertig, die insgeheim mitgeführte Pistole zu ziehen. Es sind derlei biographische Fakten, die - das Gesamtbild in keiner Weise "revisionistisch" tangierend - zur Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs gehören.
III.
Zu den Lesefrüchten der Weinachtstage gehört das Interview mit dem Historiker Thomas Weber, Autor einer Biographie über Hitler im Ersten Weltkrieg, mit dem FAZ-Redakteur Reinhard Müller unter dem Titel "Weihnachten als Waffe" (FAZ v. 24.12.2022, S.8). Dass an Weihnachten 1914 deutsche und britische Soldaten aus den Schützengräben hervorkrochen und sich verbrüderten, ist - auch dank einschlägiger Fotoaufnahmen - bekannt. Weber berichtet von weniger geläufigen Verbrüderungsszenen im weiteren Verlauf des Krieges, so an Weihnachten 1915 in den Vogesen zwischen Deutschen und Franzosen - eine Erfahrung, die Riachard Schirrmann, den "Vater" der Jugendherbergsbewegung, zu seinem friedensstiftenden Werk inspirierte.
Zu Recht erklärt Weber derlei pazifistische - die militärischen Führung alarmierenden - Szenen mit der Tatsache, dass ungeachtet aller Propaganda der Erste Weltkrieg "in den Augen gewöhnlicher Soldaten kein Krieg der Ideologien..., sondern ein christlicher Bruderkrieg war." Anderer Natur war der nationalsozialistische Vernichtungskrieg, nicht zuletzt aufgrund seiner NS-spezifischen religiösen Momente.
Weber äußert sich sodann zu den ideologischen, orthodox-christlich verbrämten Aspekten von Putins Krieg in der Ukraine. Dass innerhalb der Ukraine, gerade auch im gespaltenen Rahmen der ukrainischen Orthodoxie, massive, politisch relevante Konflikte im Gange sind, ist hierzulande wenig bekannt. Einen Hinweis enthält darauf der auf derselben Seite 8 nebenstehend plazierte Artikel über Metropolit Onufrij, Oberhaupt der seit 1990 bestehenden Ukrainische-Orthokoxen Kirche (OUK). In den uns präsentierten Medienberichten ist von den religiösen Verwerfungen innerhalb der Orthodoxie kaum je die Rede. Tatsächlich werden die Spannungen von beiden Seiten unter anderem durchsuchte Selenskijs Geheimdienst unlängst das historische Höhlenkloster über Kiew - forciert.
An der Ostfront kam es im Ersten Weltkrieg zu Verbrüderungen zur Zeit des orthodoxen Osterfestes. Von Hoffnung auf Verbrüderung der verfeindeten russischen und ukrainischen orthodoxen Gläubigen sind wir an diesem Weihnachtsfest 2022 (oder zum alten orthodoxen Fest am 7. Januar 2023) weit entfernt. Frieden auf Erden? Frieden in Europa?