I.
Von allerlei Imponderabilien hängt die Brüsseler Zukunft des bayerischen "Spitzenkandidaten" Manfred Weber, eines Mannes mit offenbar gefestigter, historisch unbeschädigter Identität - er ist nach eigenen Worten "Bayer und Europäer, dann erst Deutscher" -, bei den EU-Wahlen ab. Ob ihm als "Spitzenkandidat" die Juncker-Nachfolge ins Amt des EU-Kommissionspräsidenten gelingt, steht dahin. Wie kriegt er nach dem 26. Mai die entsprechende Mehrheit zusammen, wenn sich in der vermeintlich konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) Risse auftun, wenn es (wohl mehr rechte als linke) wegen des befürchteten Anwachsens der vermaledeiten Populisten nicht zu einer Mehrheit reicht? Werden sich etwa die mutmaßlich umfassend blessierten Sozialdemokraten mit den Liberalen zusammentun oder die Liberalen vielleicht doch mit den Konservativen?
Überhaupt: welche Arithmetik geht auf? Wir dürfen auch nach den EU-Wahlen noch bis in den September hinein rätseln.Was wird aus den britischen Stimmen im EU-Parlament, wenn denn das Vereinigte Königreich nicht noch rechtzeitig aus der EU ausscheidet oder aber auf Teilnahme an den Wahlen verzichtet? Unser bayerischer "Spitzenkandidat" Weber fände es ungehörig, wider den europäischen Anstand, wertegefährdend, wenn die Briten zuerst mit ihren 73 Abgeordneten ins Europaparlament - genauer: ins EU-Parlament - einzögen, anfangs noch mitbestimmten und sich sodann aus der Versammlung wieder verabschiedeten.
II.
Die Frage, wie und warum es überhaupt zum - womöglich doch noch abzuwendenden oder zu widerrufenden - Brexit kommen konnte, wurde in der nun bereits fast drei Jahre währenden Debatte seit dem Referendum kaum je ernsthaft diskutiert. Man ist sich einig: Schuld daran sind "Populisten" wie Nigel Farage, Tory-Exzentriker wie Boris Johnson und Jacob Mees-Rogg, dazu die ergraute und ungebildete einstige Arbeiterklasse in England und Wales, die "Abgehängten", die noch immer ihrem linksradikalen Labour-Führer Jeremy Corbyn anhängen, soweit sie inzwischen nicht von "rechten" nationalistischen Ressentiments beseelt sind.
Dass es - aus Sicht der Briten - plausible Gründe für den von Theresa May - wider eigene Überzeugung - betriebenen Brexit geben könnte, ist ein Gedanke, den "überzeugte Europäer", sprich: Anhänger der Idee einer "ever closer union", d.h. eines zentralistisch organisierten Bundesstaates, gar nicht erst an sich herantreten lassen. In all den Jahren, als die Briten - in erster Linie die Engländer - sich gegen die kontinuierliche Preisgabe ihrer Souveränität sperrten, wurden ihre Einwände als "Rosinenpicken" oder als Obstruktion am Bau Europas abgetan. Als May daranging, den "Volkswillen" des Abschieds vom Kontinent ins Werk zu setzen, fehlte es an konstruktiven Vorschlägen, wie der Brexit womöglich noch vermieden werden könnte. Erforderlich gewesen wäre ein Nachdenken über flexible Alternativen zu der in den Verträgen von Maastricht (1992/1993) bis Lissabon (2007/2009) fixierten Konstruktion.
Ein unvoreingenommener Europäer, der Schweizer Staats- und Völkerrechtler Lucius Wildhaber, hat die für Außenstehende im Detail - vom backstop an der Grenzlinie zwischen Nordirland und der südlichen Republik einmal abgesehen - kaum verständliche Auseinandersetzung um den Brexit wie folgt kommentiert: "Betrachtet man, was in den letzten zwei Jahren
passiert ist, muss man feststellen: Man kann die Einstellung der Briten
begreifen. Das zeigte nur schon die Wahl des Verhandlungsführers auf
EU-Seite: Michel Barnier ist ein frankofoner Prinzipienreiter. Alleine
das erweckt schon den Eindruck, dass die EU den Briten eine Lektion
verpassen wollte. Das wird auch der EU zu schaffen machen." Auf die Frage, was die EU hätte tun sollen, antwortete er: "Die
Idee der europäischen Integration, auf die sich die EU stets beruft,
stammt aus den fünfziger Jahren. Sie ist unter dem Eindruck des Zweiten
Weltkriegs entstanden. Man kann nicht ernsthaft erwarten, dass daran
auch nach sechzig Jahren nicht gerüttelt werden darf. Europa hat sich
gewandelt, und die EU reagiert darauf nicht. Sie hätte den Briten von
Anfang an, noch vor Camerons Referendum, mehr anbieten müssen als ein
paar schöne Worte. Sie hat es damals nicht getan und seither ebenso
wenig. Sie ist damit für die heutige Situation mitverantwortlich." (NZZ v.16.04.2019: https://www.nzz.ch/schweiz/wildhaber-man-haette-russland-damals-nicht-aufnehmen-sollen-ld.1469237?fbclid=IwAR0cV9zitX4SNH8pmELxPK6xYYc39-Mwy1_2PHP_Gmyy8TOKBpv2TaFkcSc)
III.
Naturgemäß werden derlei Fragen - kritische Anfragen an Form und Inhalt der Machtstrukturen der EU - in den Wochen bis bis zu den EU-Parlamentswahlen vom 23.-26.Mai nirgendwo behandelt. In Wahlkämpfen geht es darum, den Souverän (id est das Volk/Wahlvolk, lingua politica die Wählerinnen und Wähler) in seine demokratische Pflicht zu nehmen, zugleich das Wahlvolk vor intellektuellen Anstrengungen zu schützen. Unvermeidlich mischen dabei seit einigen Jahren die populistischen Spielverderber mit. Ob auch die MLPD (=Marxistisch-Leninistische Partrei Deutschlands) zu den Populisten zählt, ist eine Geschmacksfrage. Sie appelliert direkt an den demokratischen Urinstinkt des Volkes, indem sie proklamiert: "Revolution ist kein Verbrechen!" Die populistische AfD hat - aus verständlichen Gründen - ihre Plakate möglichst hoch aufgehängt, um das Volk an seine bzw. ihre Heimatliebe zu erinnern.
Unter den staatstragenden Parteien fordert die inzwischen nicht-populistische Partei "Die Linke" die Enteignung der Miethaie und empfiehlt sich - wie dereinst in vergessenen SED-Tagen - als Partei des Friedens. Was die CDU dem Wahlvolk anbietet, ist dem Verfasser entfallen, im Zweifelsfall: "mehr Europa". Die SPD weiß dagegen Genaueres: "Europa ist die Antwort". Mit der Frage "Worauf?" wollte die PR-Profis der Partei den Wähler/die Wählerin nicht weiter belasten. Die Grünen versprechen wie alle anderen - mit Ausnahme der FDP, die nicht zulassen will, dass Deutschland bei der Digitalisierung abgehängt wird - ein "soziales Europa". Sie wissen auch, wie man das Klima am besten schützt. Dazu proklamieren sie in grüner Semantik "Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit". Für Brüder, Männer, Adoleszenten, junge Knaben sind Freiheit und Gleichheit erst nach - zumindest ideeller - Geschlechtsumwandlung verfügbar. Wer´s noch nicht wissen sollte: Klima kennt keine Grenzen. Während wir vor der für 2050 angekündigten Apokalypse erschrecken sollen, versichern die Grünen: "Eine mutige Gesellschaft braucht vor der Zukunft keine Angst zu haben" (oder so ähnlich). In der postheroischen Ära gehört Mut nicht mehr zu den klassischen Tugenden des einzelnen freien Bürgers, sondern wird wie Crystal Meth bei der Perma-Party im Berghain an die ganze europäische (?) Gesellschaft verabreicht, um sie für den Kampf gegen die Klimakatastrophe und für die Elektromobilität aufzumöbeln.
IV.
Zum Schluss: Dass es eine gemeinsame europäische Kultur gibt, zeigte die Brandkatastrophe in Notre Dame von Paris. Zahllose Europäer, gleich welcher Nation, Religion oder politischer Konfession verfolgten - hierzulande nur über N-TV - mit Betrübnis die aus dem Dach schlagenden Flammen, erlebten den Einsturz des Vierungsturmes, bangten um die Stabilität der beiden Haupttürme. Mit Erleichterung vernahmen sie die Botschaft, dass die Gesamtstruktur der Kathedrale gerettet werden konnte.
Ohne das Bewusstsein einer gemeinsamen Kultur - umfasst sie nur das westliche Abendland oder nicht auch die östliche Orthodoxie? - bleiben die politischen Anstrengungen für eine friedliche, humane Zukunft des gemeinsamen Hauses Europa ungewiss.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen