Dienstag, 19. Februar 2019

Res omissa

I.
Jedesmal, wenn den Abonnenten der Zweifel überkommt, ob sich  das FAZ-Abonnement für die Frühstückslektüre denn noch lohne, findet er einen Beitrag, der den Zweifel an der Zeitung für eine Zeitlang wieder unterdrückt. Dies war in der letzten Wochenendausgabe bei der Lektüre eines ausführlichen  Interviews der Fall, das  der Herausgeber Jürgen Kaube und  Simon Strauß mit dem Althistoriker Christian Meier anläßlich dessen 90. Geburtstags führten (FAZ nr. 40 v. 16.02.2019, S. 11, 13).

Christian Meier, geboren 1929 in Stolp/Pommern (heute Słupsk), spricht über seinen eher zufälligen Weg zur Alten Geschichte in der Nachkriegszeit. Vor dem Hintergrund des Ende der Weimarer Republik schrieb er seine Dissertation über den Untergang der römischen Republik. Seine Habilitationsschrift trug den Titel "Res publica amissa" ("Die aufgegebene Republik"). Sein langjähriger Gesprächspartner war der ob seiner unrühmlichen Rolle im "Dritten Reich" verpönte Carl Schmitt. Der bis heute - wegen seines Freund/Feind-Begriffs des Politischen - verpönte Carl Schmitt vermittelte Christian Meier - anstelle der vorherrschenden Begriffe von Staat und Gesellschaft - einen distanzierten, "realistischen"  Blick auf die Welt der griechischen Polis - deren Charakter stellte er anno 1970 in dem bedeutsamen Suhrkamp-Bändchen "Entstehung des Begriffs ´Demokratie´" dar - sowie auf die römische Res Publica.

Das Wesen der attischen Demokratie, genauer: das Selbstverständnis der politeia,  war ihr Begriff  von "Freiheit" (eleuthería),  gewonnen aus dem Sieg über die Perser, sowie die umfassende bürgerliche Teilhabe am politischen Geschehen, getragen von Selbstbewußtsein, von Können und Kritik. Wer dahinter wiederum den Begriff des Politischen erkennt - zuerst gerichtet nach außen, sodann gegen Machtkonkurrenten innerhalb der hellenischen Welt, schließlich wieder gegen das Perserreich -, liegt richtig. Heute, so wäre zu folgern,  tritt die - stets abgeleugnete, moralisch verdammte - Schmittsche Dichotomie erneut - wie ehedem vor dem Mauerfall - in zwiefacher Weise hervor: in wiedergewonnenen Feindbildern nach außen hin (Putin und das russische Imperium,  seit 2016 auch Trump, dazu im EU-Inneren Viktor Orbán), im Kampf gegen reale und imaginäre Verfassungsfeinde im Innern.

II.
Anno 1965 - drei Jahre vor dem heiligen westdeutschen Jahr 1968 - hielt Christian Meier einen Vortrag in der Evangelischen Studentengemeinde Freiburg. Unter dem Schatten der Frankfurter Auschwitz-Prozesse zog er  eine negative Bilanz der deutschen Geschichte und erntete dabei Widerspruch mit Verweisen auf die Bombardierung Dresdens und die Vergehen der Roten Armee.
Daß die  von Deutschen begangenen Schrecken der Geschichte sich nicht aufrechnen lassen, war ehedem noch nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen - womöglich trotz allen Bemühens noch heute nicht allenthalben.  Indirekt zollt Meier den "68ern" und ihrer moralischen Selbstlegitimation Tribut. Es gilt indes  zu erinnern, daß jener Generation, großzügig im Umgang mit dem "Faschismus"-Begriff,  die antiimperialistischen Befreiungskämpfe weithin mehr am Herzen lagen als die Konfrontation mit der bedrückenden Geschichte und Gegenwart ihres eigenen, geteilten Landes.

1985 fiel Christian Meier die Aufgabe zu, den Internationalen Historikertag zu eröffnen. Es war das Jahr der Eklats um den Besuch Helmut Kohls und des US-Präsidenten Reagan  auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg sowie um den  "Historikerstreit". In einer Rede, die er Anfang 1986 an der Universität Tel Aviv hielt, wandte sich der Althistoriker Meier gegen jeglichen Versuch, mit Hilfe simplifizierender Ideologien - wie des von vielen - nicht allen - "68en" instrumentalisierten Faschismus-Begriffs, aber auch des in der Nachkriegszeit vorherrschenden Totalitarismus-Begriffs nach Fluchtwegen aus der deutschen Geschichte zu suchen, der Wahrnehmung "des von uns zwischen 1933 und 1945 Angerichteten", "der Einzigartigkeit der Verbrechen, zu entrinnen."

Gleichwohl bezog Meier im Blick auf die Protagonisten des "Historikerstreits"  eine vermittelnde Position: "Gewiß sollten wir wieder ein bewußteres, geordneteres Verhältnis zu unserer Geschichte haben. Es müßte uns ermöglichen, diese wieder mit den Augen der Identität zu sehen." Sodann: Im Blick auf "die damaligen Verhältnisse" und den damaligen "Wissensstand" "brauchten wir uns unserer Eltern und Großeltern zumeist nicht zu schämen. Wir werden sie uns allerdings nur in relativ wenigen Fällen zum Vorbild nehmen können."

III.
In dem FAZ-Interview spricht Christian Meier vom Faktum der geistigen Erschöpfung der antiken Kultur, von sich unmerklich hinziehenden Krisen sowie - mit einem Zitat von Robert Musil - von den "Mutationen" der Menschen - im Gegensatz zum Abstraktum "der Mensch". Sodann äußert er politisch unerwünschte Kritik am moralisierenden Umgang mit der Wirklichkeit. "Menschen mögen es nicht, dass sie (und ihre Gemeinwesen) wehrlos sind. [...] Ich vermute, dass wir irgendwann dazu kommen werden, doch wieder mehr von Interessen als von den vielbeschworenen Werten  zu sprechen. Was machen Sie, wenn auf einmal eine Million Afrikaner bei uns zuwandern? Wollen Sie dann noch von Werten reden?" Den derzeitigen Luxus gerne selbstlos teilen werde wohl kaum einer...

Eingangs fragen die Interviewer den Neunzigjährigen nach seinen Wahrnehmungen als sechzehnjähriger Flakhelfer - als preußisch geprägter junger Mensch wollte er "eigentlich Offizier werden" - bei Kriegsende. "Aufs Ganze gesehen war ich in diesen Tagen wie betäubt." Trotz - angedeuteter -  Distanz zum Regime habe man das Kriegsende als Niederlage erlebt. Erst nach und nach habe sich der Blick für Ausmaß und Charakter des maßlosen Verbrechens geweitet.

In dem Interview fällt auch der Name des Kollegen und Neuzeithistorikers Reinhart Koselleck (gleichfalls ein von Carl Schmitt geprägter Denker). Koselleck (1923-2006) erwähnte mehrfach, daß er  in den Kriegsjahren als  Soldat  von den NS-Verbrechen keine Vorstellung hatte. Erst als er sich  als Kriegsgefangener in Auschwitz befand, sei er bei einem Wutausbruch eines  Aufsehers blitzartig zur  Erkenntnis der grauenvollen Wahrheit gekommen.

Im Hinblick auf die Gegenwart, wo weithin das Bild kollektiven Zusehens angesichts der vermeintlich vor aller Augen vollzogenen Verbrechen vermittelt wird, hätte die Eingangsfrage des Interviews um  die Frage erweitert werden müssen: "Was haben Sie und Ihre [deutschnationalen] Eltern von den Verbrechen wahrgenommen oder erfahren?"Die Interviewer unterließen die Frage. Res omissa.




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