Seit etwa 10 - 15 Jahren drehen sich die Debatten der "offenen Gesellschaften" West-Europas - maßgeblich inspiriert vom Siegeszug vermeintlich "linker" Ideologien an amerikanischen Universitäten und Colleges - kaum noch um Klassenunterschiede und soziale Fragen, sondern um zwei auf den ersten Blick separate Themen: um den Klimawandel sowie um die Gleichberechtigung von Identitäten. Wie "offen" es inzwischen an deutschen Universitäten zugeht, ist etwa an der Expansion von Gender studies quer durch die Fakultäten - noch ziemlich unberührt die exakten Wissenschaften - abzulesen. Alle communities und Definitionen des je höchsteigenen Ich - man denke etwa an die jüngste Erweiterung der Abkürzung LGBT auf LGBTI - beanspruchen im Namen der demokratischen und/oder universellen Gleichheit die gleichen Rechte und die Institutionalisierung dieser Rechte. Insofern alle politischen, medialen und akademischen Diskurse mittlerweile grün - den Weltfrieden hat man zugunsten menschenrechtsbedingter Interventionen in der Agenda derzeit ziemlich weit nach hinten geschoben - eingefärbt sind, kommt es zur Synthese der beiden Themenbereiche. Übers Klima und über die Identitäten kommt die Religion ins Spiel: a) es geht um die Rettung des Planeten vor der ab 2050 hereinbrechenden Apokalypse b) es gilt aus Ehrfurcht vor der verletzbaren menschlichen Seele jede Identität zu schützen und zu entfalten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich gehöre nicht zur Kategorie der "Klimaleugner" (gemeint: zu den Zweiflern am Klimawandel). Im Gegenteil: Ich vermisse die schneereichen Winter von gestern und die ehedem (fast) alljährlich zugefrorenen Berliner Seen. Ich bin nur in Maßen erleichtert, wenn dann im März noch ein später Wintereinbruch daherkommt. Als Nichtklimatologe halte ich mich an die Erkenntnisse der Wissenschaft, soeben erneut belehrt von dem Philosophen Mathias Frisch, der den von einer Minderheit von Experten genährten Zweifel als zweckgerichtete Fake News - analog der langjährigen Verharmlosung der Gesundheitsschäden durch die Tabakindustrie - zurückweist ("Wissenschaftler sind keine Glaubensbrüder", in: FAZ v. 27.02.2018, S. N1). Ich beharre angesichts der offenbar schwer erreichbaren Klimaziele auf einfacher Logik: Wenn man - abgesehen von den realen Klimakosten bei der Produktion und Entsorgung von Abertausenden von Windrädern - die Emissionen senken will, müsste man auf die - fraglos risikoreiche - in vielen Ländern des Globus unvermindert ausgebaute Kernenergie zurückgreifen. Das aber verbietet die grüne Religion.
Im Zuge der Migration kommt ein höchst reales religiöses Problem auf die säkularen und - vom Klima-Credo abgesehen - zunehmend areligiösen, zumindest kirchenfernen (west-)europäischen Gesellschaften hinzu. Die Migranten - und nicht nur die "Islamisten" - scheinen glaubensfester zu sein als die Indigenen.Was bedeutet all dies für unsere Demokratie? Zu dieser Thematik lud Bundespräsident Steinmeier Experten und Publikum zu seinem "Forum Bellevevue". Steinmeier selbst hielt die heutige deutsche Gesellschaft nicht für areligiös, sondern für "pluri-religiös", was man daran erkenne, dass im selben Viertel, "Kreuz, Kopftuch und Kippa" aufeinanderträfen. (Zur Verifizierung dieser schönen These sollte Steinmeier einen unbegleiteten Ausflug in die entsprechenden Viertel - und die dortigen Schulen - unternehmen. Er kennt Neukölln vor allem aus jenen Tagen, da er als Kanzlerkandidat auf Stimmenfang mit dem Clan-affinen Rapper Bushido rappte.) Steinmeier steht derzeit wegen seiner Glückwünsche ans iranische Mullah-Regime unter christlich-jüdischer Kritik.
Dass sich fromme Muslime - gleich welcher Richtung und/oder Rechtsschule - nicht allein aufgrund ihrer Vorstellung von der umma mit der Demokratie und ihrer Zivilreligion schwer tun, wird spätesten dann sichtbar, wenn die entsprechenden Dialogforen oder Islamkonferenzen ergebnislos bleiben. Unausgesprochen bleibt das schlichte Faktum, dass es den diversen Verbänden - ob nun Ditib oder Ahmadyyia - unter dem Vorwand gleichberechtigter Partizipation um Macht geht. Auf dem "Forum Bellevue" ging es anscheinend auch um theologische Fragen. Der Religionssoziologe Hans Joas meinte - womöglich im Blick auf die heutige Kirchenlandschaft -, von einer Rückkehr der Reliigion könne man zwar nicht sprechen, aber auch nicht mehr von der unaufhaltsamen Säkularisierung. (Siehe den Artikel "Plurireligiös", ibid. S. 9.) Was aber dann?
Offenbar vermied man den Hinweis auf die Rolle der grünen Ersatzreligion im postchristlichen Kontext. (Dazu jüngst Josef Kraus: https://www.tichyseinblick.de/meinungen/fasten-fuer-den-klimagott/?fbclid=IwAR0D2gAR-lwzrHgRvwktmH5N5TuW5bxYrFNCF6ZsPHuwPvv5Sg3prlfv2tU) Aus dem Publikum kam der kritische Hinweis, der Islam - zu ergänzen: als hermetische Offenbarungsreligion - sei gar nicht reformierbar. Der von den Islamverbänden wegen seiner historisch-kritischen Herangehensweise an den Koran angefeindete Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide vertrat die These, bei den Muslimen - anscheinend undifferenziert im Kollektiv - gehe es heute weniger um Spiritualität als um Identität.
Damit gelangt die Debatte um die Gretchenfrage zurück zur Frage nach "Identität". Wo mit religiöser Inbrunst auf "Identitäten" (beliebig diffundierend im Plural) insistiert wird, löst sich das Konzept der pluralen Wertegemeinschaft und dem politisch-ethischen Grundkonsens der säkularen Demokratie in ideologisch-politischen Machtkämpfen auf.
Donnerstag, 28. Februar 2019
Dienstag, 19. Februar 2019
Res omissa
I.
Jedesmal, wenn den Abonnenten der Zweifel überkommt, ob sich das FAZ-Abonnement für die Frühstückslektüre denn noch lohne, findet er einen Beitrag, der den Zweifel an der Zeitung für eine Zeitlang wieder unterdrückt. Dies war in der letzten Wochenendausgabe bei der Lektüre eines ausführlichen Interviews der Fall, das der Herausgeber Jürgen Kaube und Simon Strauß mit dem Althistoriker Christian Meier anläßlich dessen 90. Geburtstags führten (FAZ nr. 40 v. 16.02.2019, S. 11, 13).
Christian Meier, geboren 1929 in Stolp/Pommern (heute Słupsk), spricht über seinen eher zufälligen Weg zur Alten Geschichte in der Nachkriegszeit. Vor dem Hintergrund des Ende der Weimarer Republik schrieb er seine Dissertation über den Untergang der römischen Republik. Seine Habilitationsschrift trug den Titel "Res publica amissa" ("Die aufgegebene Republik"). Sein langjähriger Gesprächspartner war der ob seiner unrühmlichen Rolle im "Dritten Reich" verpönte Carl Schmitt. Der bis heute - wegen seines Freund/Feind-Begriffs des Politischen - verpönte Carl Schmitt vermittelte Christian Meier - anstelle der vorherrschenden Begriffe von Staat und Gesellschaft - einen distanzierten, "realistischen" Blick auf die Welt der griechischen Polis - deren Charakter stellte er anno 1970 in dem bedeutsamen Suhrkamp-Bändchen "Entstehung des Begriffs ´Demokratie´" dar - sowie auf die römische Res Publica.
Das Wesen der attischen Demokratie, genauer: das Selbstverständnis der politeia, war ihr Begriff von "Freiheit" (eleuthería), gewonnen aus dem Sieg über die Perser, sowie die umfassende bürgerliche Teilhabe am politischen Geschehen, getragen von Selbstbewußtsein, von Können und Kritik. Wer dahinter wiederum den Begriff des Politischen erkennt - zuerst gerichtet nach außen, sodann gegen Machtkonkurrenten innerhalb der hellenischen Welt, schließlich wieder gegen das Perserreich -, liegt richtig. Heute, so wäre zu folgern, tritt die - stets abgeleugnete, moralisch verdammte - Schmittsche Dichotomie erneut - wie ehedem vor dem Mauerfall - in zwiefacher Weise hervor: in wiedergewonnenen Feindbildern nach außen hin (Putin und das russische Imperium, seit 2016 auch Trump, dazu im EU-Inneren Viktor Orbán), im Kampf gegen reale und imaginäre Verfassungsfeinde im Innern.
II.
Anno 1965 - drei Jahre vor dem heiligen westdeutschen Jahr 1968 - hielt Christian Meier einen Vortrag in der Evangelischen Studentengemeinde Freiburg. Unter dem Schatten der Frankfurter Auschwitz-Prozesse zog er eine negative Bilanz der deutschen Geschichte und erntete dabei Widerspruch mit Verweisen auf die Bombardierung Dresdens und die Vergehen der Roten Armee.
Daß die von Deutschen begangenen Schrecken der Geschichte sich nicht aufrechnen lassen, war ehedem noch nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen - womöglich trotz allen Bemühens noch heute nicht allenthalben. Indirekt zollt Meier den "68ern" und ihrer moralischen Selbstlegitimation Tribut. Es gilt indes zu erinnern, daß jener Generation, großzügig im Umgang mit dem "Faschismus"-Begriff, die antiimperialistischen Befreiungskämpfe weithin mehr am Herzen lagen als die Konfrontation mit der bedrückenden Geschichte und Gegenwart ihres eigenen, geteilten Landes.
1985 fiel Christian Meier die Aufgabe zu, den Internationalen Historikertag zu eröffnen. Es war das Jahr der Eklats um den Besuch Helmut Kohls und des US-Präsidenten Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg sowie um den "Historikerstreit". In einer Rede, die er Anfang 1986 an der Universität Tel Aviv hielt, wandte sich der Althistoriker Meier gegen jeglichen Versuch, mit Hilfe simplifizierender Ideologien - wie des von vielen - nicht allen - "68en" instrumentalisierten Faschismus-Begriffs, aber auch des in der Nachkriegszeit vorherrschenden Totalitarismus-Begriffs nach Fluchtwegen aus der deutschen Geschichte zu suchen, der Wahrnehmung "des von uns zwischen 1933 und 1945 Angerichteten", "der Einzigartigkeit der Verbrechen, zu entrinnen."
Gleichwohl bezog Meier im Blick auf die Protagonisten des "Historikerstreits" eine vermittelnde Position: "Gewiß sollten wir wieder ein bewußteres, geordneteres Verhältnis zu unserer Geschichte haben. Es müßte uns ermöglichen, diese wieder mit den Augen der Identität zu sehen." Sodann: Im Blick auf "die damaligen Verhältnisse" und den damaligen "Wissensstand" "brauchten wir uns unserer Eltern und Großeltern zumeist nicht zu schämen. Wir werden sie uns allerdings nur in relativ wenigen Fällen zum Vorbild nehmen können."
III.
In dem FAZ-Interview spricht Christian Meier vom Faktum der geistigen Erschöpfung der antiken Kultur, von sich unmerklich hinziehenden Krisen sowie - mit einem Zitat von Robert Musil - von den "Mutationen" der Menschen - im Gegensatz zum Abstraktum "der Mensch". Sodann äußert er politisch unerwünschte Kritik am moralisierenden Umgang mit der Wirklichkeit. "Menschen mögen es nicht, dass sie (und ihre Gemeinwesen) wehrlos sind. [...] Ich vermute, dass wir irgendwann dazu kommen werden, doch wieder mehr von Interessen als von den vielbeschworenen Werten zu sprechen. Was machen Sie, wenn auf einmal eine Million Afrikaner bei uns zuwandern? Wollen Sie dann noch von Werten reden?" Den derzeitigen Luxus gerne selbstlos teilen werde wohl kaum einer...
Eingangs fragen die Interviewer den Neunzigjährigen nach seinen Wahrnehmungen als sechzehnjähriger Flakhelfer - als preußisch geprägter junger Mensch wollte er "eigentlich Offizier werden" - bei Kriegsende. "Aufs Ganze gesehen war ich in diesen Tagen wie betäubt." Trotz - angedeuteter - Distanz zum Regime habe man das Kriegsende als Niederlage erlebt. Erst nach und nach habe sich der Blick für Ausmaß und Charakter des maßlosen Verbrechens geweitet.
In dem Interview fällt auch der Name des Kollegen und Neuzeithistorikers Reinhart Koselleck (gleichfalls ein von Carl Schmitt geprägter Denker). Koselleck (1923-2006) erwähnte mehrfach, daß er in den Kriegsjahren als Soldat von den NS-Verbrechen keine Vorstellung hatte. Erst als er sich als Kriegsgefangener in Auschwitz befand, sei er bei einem Wutausbruch eines Aufsehers blitzartig zur Erkenntnis der grauenvollen Wahrheit gekommen.
Im Hinblick auf die Gegenwart, wo weithin das Bild kollektiven Zusehens angesichts der vermeintlich vor aller Augen vollzogenen Verbrechen vermittelt wird, hätte die Eingangsfrage des Interviews um die Frage erweitert werden müssen: "Was haben Sie und Ihre [deutschnationalen] Eltern von den Verbrechen wahrgenommen oder erfahren?"Die Interviewer unterließen die Frage. Res omissa.
Jedesmal, wenn den Abonnenten der Zweifel überkommt, ob sich das FAZ-Abonnement für die Frühstückslektüre denn noch lohne, findet er einen Beitrag, der den Zweifel an der Zeitung für eine Zeitlang wieder unterdrückt. Dies war in der letzten Wochenendausgabe bei der Lektüre eines ausführlichen Interviews der Fall, das der Herausgeber Jürgen Kaube und Simon Strauß mit dem Althistoriker Christian Meier anläßlich dessen 90. Geburtstags führten (FAZ nr. 40 v. 16.02.2019, S. 11, 13).
Christian Meier, geboren 1929 in Stolp/Pommern (heute Słupsk), spricht über seinen eher zufälligen Weg zur Alten Geschichte in der Nachkriegszeit. Vor dem Hintergrund des Ende der Weimarer Republik schrieb er seine Dissertation über den Untergang der römischen Republik. Seine Habilitationsschrift trug den Titel "Res publica amissa" ("Die aufgegebene Republik"). Sein langjähriger Gesprächspartner war der ob seiner unrühmlichen Rolle im "Dritten Reich" verpönte Carl Schmitt. Der bis heute - wegen seines Freund/Feind-Begriffs des Politischen - verpönte Carl Schmitt vermittelte Christian Meier - anstelle der vorherrschenden Begriffe von Staat und Gesellschaft - einen distanzierten, "realistischen" Blick auf die Welt der griechischen Polis - deren Charakter stellte er anno 1970 in dem bedeutsamen Suhrkamp-Bändchen "Entstehung des Begriffs ´Demokratie´" dar - sowie auf die römische Res Publica.
Das Wesen der attischen Demokratie, genauer: das Selbstverständnis der politeia, war ihr Begriff von "Freiheit" (eleuthería), gewonnen aus dem Sieg über die Perser, sowie die umfassende bürgerliche Teilhabe am politischen Geschehen, getragen von Selbstbewußtsein, von Können und Kritik. Wer dahinter wiederum den Begriff des Politischen erkennt - zuerst gerichtet nach außen, sodann gegen Machtkonkurrenten innerhalb der hellenischen Welt, schließlich wieder gegen das Perserreich -, liegt richtig. Heute, so wäre zu folgern, tritt die - stets abgeleugnete, moralisch verdammte - Schmittsche Dichotomie erneut - wie ehedem vor dem Mauerfall - in zwiefacher Weise hervor: in wiedergewonnenen Feindbildern nach außen hin (Putin und das russische Imperium, seit 2016 auch Trump, dazu im EU-Inneren Viktor Orbán), im Kampf gegen reale und imaginäre Verfassungsfeinde im Innern.
II.
Anno 1965 - drei Jahre vor dem heiligen westdeutschen Jahr 1968 - hielt Christian Meier einen Vortrag in der Evangelischen Studentengemeinde Freiburg. Unter dem Schatten der Frankfurter Auschwitz-Prozesse zog er eine negative Bilanz der deutschen Geschichte und erntete dabei Widerspruch mit Verweisen auf die Bombardierung Dresdens und die Vergehen der Roten Armee.
Daß die von Deutschen begangenen Schrecken der Geschichte sich nicht aufrechnen lassen, war ehedem noch nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen - womöglich trotz allen Bemühens noch heute nicht allenthalben. Indirekt zollt Meier den "68ern" und ihrer moralischen Selbstlegitimation Tribut. Es gilt indes zu erinnern, daß jener Generation, großzügig im Umgang mit dem "Faschismus"-Begriff, die antiimperialistischen Befreiungskämpfe weithin mehr am Herzen lagen als die Konfrontation mit der bedrückenden Geschichte und Gegenwart ihres eigenen, geteilten Landes.
1985 fiel Christian Meier die Aufgabe zu, den Internationalen Historikertag zu eröffnen. Es war das Jahr der Eklats um den Besuch Helmut Kohls und des US-Präsidenten Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg sowie um den "Historikerstreit". In einer Rede, die er Anfang 1986 an der Universität Tel Aviv hielt, wandte sich der Althistoriker Meier gegen jeglichen Versuch, mit Hilfe simplifizierender Ideologien - wie des von vielen - nicht allen - "68en" instrumentalisierten Faschismus-Begriffs, aber auch des in der Nachkriegszeit vorherrschenden Totalitarismus-Begriffs nach Fluchtwegen aus der deutschen Geschichte zu suchen, der Wahrnehmung "des von uns zwischen 1933 und 1945 Angerichteten", "der Einzigartigkeit der Verbrechen, zu entrinnen."
Gleichwohl bezog Meier im Blick auf die Protagonisten des "Historikerstreits" eine vermittelnde Position: "Gewiß sollten wir wieder ein bewußteres, geordneteres Verhältnis zu unserer Geschichte haben. Es müßte uns ermöglichen, diese wieder mit den Augen der Identität zu sehen." Sodann: Im Blick auf "die damaligen Verhältnisse" und den damaligen "Wissensstand" "brauchten wir uns unserer Eltern und Großeltern zumeist nicht zu schämen. Wir werden sie uns allerdings nur in relativ wenigen Fällen zum Vorbild nehmen können."
III.
In dem FAZ-Interview spricht Christian Meier vom Faktum der geistigen Erschöpfung der antiken Kultur, von sich unmerklich hinziehenden Krisen sowie - mit einem Zitat von Robert Musil - von den "Mutationen" der Menschen - im Gegensatz zum Abstraktum "der Mensch". Sodann äußert er politisch unerwünschte Kritik am moralisierenden Umgang mit der Wirklichkeit. "Menschen mögen es nicht, dass sie (und ihre Gemeinwesen) wehrlos sind. [...] Ich vermute, dass wir irgendwann dazu kommen werden, doch wieder mehr von Interessen als von den vielbeschworenen Werten zu sprechen. Was machen Sie, wenn auf einmal eine Million Afrikaner bei uns zuwandern? Wollen Sie dann noch von Werten reden?" Den derzeitigen Luxus gerne selbstlos teilen werde wohl kaum einer...
Eingangs fragen die Interviewer den Neunzigjährigen nach seinen Wahrnehmungen als sechzehnjähriger Flakhelfer - als preußisch geprägter junger Mensch wollte er "eigentlich Offizier werden" - bei Kriegsende. "Aufs Ganze gesehen war ich in diesen Tagen wie betäubt." Trotz - angedeuteter - Distanz zum Regime habe man das Kriegsende als Niederlage erlebt. Erst nach und nach habe sich der Blick für Ausmaß und Charakter des maßlosen Verbrechens geweitet.
In dem Interview fällt auch der Name des Kollegen und Neuzeithistorikers Reinhart Koselleck (gleichfalls ein von Carl Schmitt geprägter Denker). Koselleck (1923-2006) erwähnte mehrfach, daß er in den Kriegsjahren als Soldat von den NS-Verbrechen keine Vorstellung hatte. Erst als er sich als Kriegsgefangener in Auschwitz befand, sei er bei einem Wutausbruch eines Aufsehers blitzartig zur Erkenntnis der grauenvollen Wahrheit gekommen.
Im Hinblick auf die Gegenwart, wo weithin das Bild kollektiven Zusehens angesichts der vermeintlich vor aller Augen vollzogenen Verbrechen vermittelt wird, hätte die Eingangsfrage des Interviews um die Frage erweitert werden müssen: "Was haben Sie und Ihre [deutschnationalen] Eltern von den Verbrechen wahrgenommen oder erfahren?"Die Interviewer unterließen die Frage. Res omissa.
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