Freitag, 1. Juni 2018

Biographische Rückschau auf "1968"

Auf Facebook, dem so bescheuerten wie - leider -  unentbehrlichen, wenn auch gemäßigter Zensur unterliegendem Kommunikationsraum  deutscher  Dissidenten, kündigte Cora Stephan eine Veranstaltung an: "Früher traf man sich im Republikanischen Club, heute in der Bibliothek des Konservativismus". Die Botschaft kam sicher auch bei Tante Antifa an, die auf Teilnahme indes verzichtete, mutmaßlich da sie ihre politische Energie im Dienste der Demokratie gegen die "Konservativen", d.h. gegen "Rechts", gewöhnlich erst in nächtlichen Morgenstunden entfaltet. Die erwähnte Bibliothek in der Charlottenburger Fasanenstraße erfreut sich regelmäßig derartiger, von demokratischer "Wut" inspirierter Visiten.

An einem klimabedenklich hochsommerlichen Maienabend hatte die Bibliothek vier namhafte Persönlichkeiten (besser "Menschen", am./engl. humans, substantiviertes Adjektiv unter Weglassung des Bezugsworts  beings) zu einer Podiumsdiskussion zum Thema "Kulturbruch ´68?" geladen: Jörg Friedrich, Bettina Röhl, Cora Stephan und Gerd Held. Sie gehören  jener Kategorie von Selbstdenkenden an, die Thomas Schmid, Frankfurter Alt-68er und emeritierter Chefredakteur der "Welt", auf seinem Blog als ins konservative Lager übergewechselte "Ex-Linke", sprich Renegaten,  identifiziert hat.

Das Thema, mit einem nicht ganz ernst gemeinten Fragezeichen versehen, war dem Titel des jüngsten Buches des unbeirrt "neurechten" Vordenkers Karlheinz Weißmann entnommen. "1968" ist der einzige Geschichtsmythos, der in der ahistorisch-postnationalen Bundesrepublik an nationalen Mythen übrig geblieben ist.  Nach weithin akzeptierter Selbstinterpretation linksgrüner Protagonisten handelt es sich um  die eigentliche "Zweitgründung" der (west-)deutschen Nachkriegsdemokratie. In den Augen ihrer Gegner sind die "Achtundsechziger" für alles Unheil der Gegenwart - Multikulti, Masseneinwanderung, Auflösung aller "Werte" usw. - verantwortlich. Die triviale, ironische historische Wahrheit bleibt bei derlei Ideologiegefechten auf der Strecke. Sie besteht zum einen darin, dass die von sozialistisch-kommunistischen Utopien besessenen "Revolutionäre" von damals  die revolutionäre Dynamik des globalen Kapitalismus beschleunigten und zum anderen darin, dass "Emanzipation"  von Grünen-Frontfrauen heute vornehmlich als Kampf für das Kopftuch betrieben wird.

Aufgefordert zu biographischen Auskünften, boten die Diskutanten Jörg Friedrich (Geburtsjahr 1944),  Cora Stephan (geb. 1951), Bettina Röhl (geb. 1962) und Gerd Held (geb. 1951) - der Altersdifferenz entsprechend - allerlei Erhellendes zum diesjährigen Dauerthema "1968". Bettina Röhl, als Kind Objekt und Opfer ideologischen Wahns, seit langem unerbittliche Kritikerin des Mythos und seiner Inkarnationen (e.g. Joschka Fischer), erinnerte sich aus ihrer Kindheit an Auftritte des ungekämmten Rudi Dutschke im Hause Röhl-Meinhof (also noch vor dem Hinauswurf des "Konkret"-Gründers Röhl und vor Ulrike Meinhofs Abtauchen in den Untergrund im Mai 1970). In früher Kindheit erlebte sie eine Art duale Sozialisation: morgens in noch eher bürgerlichen Familienverhältnissen, nachmittags im "antiautoritären" Kinderladen. Amüsant ihr Bericht über jugendlichen "Widerstand" gegen den neulinken Geist an einem Hamburger Gymnasium, wo sich die Schüler sträubten, den herumlümmelnden Lehrer mit "Rolf" anzureden und zu duzen. Sie wollten lieber etwas lernen.

Cora Stephan gehörte zu den jüngeren Aktivistinnen der Revolte. Ihre Karriere begann - durchaus  repressionsfrei -  als Redakteurin bei der Schülerzeitung, sodann im AUSS (Abkürzung für eine der allerorts aufspringenden sozialistischen Schülergruppen). Ihre Liebe zu "´68" entdeckte sie als Schülerin im "swinging London", über die Beatles und die amerikanische Folk-Musik. Als Studentin ackerte sie sich - für wissenschaftliche Arbeit (eine Examensarbeit über Rudolf Hilferding) nutzbringend - durch das Marxsche "Kapital" und andere blaue MEW-Bände. Aus ihrer Frankfurter Sekte - im typischen Umschwung zu revolutionärer Verbissenheit - schloss man sie wegen "Hedonismus" aus. Die meisten westdeutschen "Neulinken" lebten in ihrer heilen Welt der Revolution, ohne  die deutschen Zustände jenseits der Mauer zur Kenntnis nehmen zu wollen.

Gerd Held, wie Röhl und Stephan Autor auf der "Achse des Guten", erlebte seine "linke" Initiation bei einer Vietnam-Demonstration, wo die Protestierer die nationale Parole "USA-SA-SS" skandierten. Schon als Schüler wurde er - womöglich gerade wegen seiner ausgezeichneten Leistungen an einem liberalen Gymnasium in Osnabrück -  anno 1970 Mitglied des maoistischen KBW, der - unter der Ägide Joscha Schmierers, des späteren Fischer-Adlatus im AA - den Adepten revolutionäre Betriebsarbeit (samt einer Revolutionssteuer von 10 Prozent des Einkommens) verordnete. Er blieb in dieser doktrinären K-Gruppe bis zu deren Selbstauflösung 1982, die einherging mit der Kaperung der "grünen" Bewegung durch die bis dato konkurrierenden "linken" Sekten. Erst danach ging er an die Universität, wo er seine späte akademische Karriere als Privatdozent für Regional- und Stadtplanung beendete. Sein in Praxis und Theorie geschulter Sachverstand vermag "grünen" Konzepten - die  ins Grüne abgewandelte Zwangsbeglückung von "´68" -, erst recht der moralisch aufgeladenen Naivität einer Claudia Roth oder Karin Göring-Eckardt keinen Charme  abzugewinnen.

Am schärfsten attackierte rückblickend der Historiker Jörg Friedrich, der älteste in der Runde der vemeintlichen "Renegaten", den revolutionären "Geist von ´68". Er schilderte seine Bekehrung zum Revolutionär: Nach West-Berlin gefahren,  um dem Wehrdienst zu entgehen und zu studieren,  erweckten  Mao- und sonstige Plakate in einer Wohngemeinschaft bei ihm zunächst nur Befremden und Interesse. Binnen einer Woche jedoch hatte er sich im neuen Milieu in  einen glühenden Revolutionär verwandelt: Man verfügte jetzt über eine Theorie, hatte auf alle Fragen die einzig richtige Antwort (i.e. der US-Kapitalismus-Imperialismus), fühlte sich als revolutionäre Avantgarde den vom Kapital manipulierten, jedoch irgendwie, wenn nötig mit Gewalt, zu erweckenden Volksmassen haushoch überlegen. Die "Gewaltfrage" hatte man im Sinne der befreienden Gewalt eindeutig entschieden. In den zahllosen Kneipen entlang der Schlüterstraße bewegten sich die Studenten in ihrem "revolutionär" abgeschirmten Binnenmilieu.

Zum Verständnis von "1968" gehört dessen Vorgeschichte. Friedrichs pointiert vorgetragene Ausführungen trugen einiges - den jüngeren Zeitgenossen, ob mehrheitlich modisch-linksgrün oder minoritär "neurechts" weithin unbekannt - zum besseren Verstehen der Empfindungen seiner Generation bei. In der -  in bürgerlichen Verhältnissen aufwachsenden, von kontinuierlich wachsendem Wohlstand profitierenden - Nachkriegsgeneration tat sich ein innerer Spalt auf. Auf der einen Seite begeisterte man sich - auch in Abwendung von den kompromittierten deutschen Traditionen -  für die französische und amerikanische Kultur, man identifizierte sich mit den humanistischen Ideen der westlichen Demokratie, auf der anderen Seite sah man, dass Frankreich im Algerienkrieg, die Belgier im Kongo, die USA in Vietnam mit brutaler Gewalt, mit Folter und Napalmbomben ihre  humanistischen Prinzipien und Proklamationen widerlegten. Und dagegen erhoben sich  -  mit befreiender Gewalt - die Völker der Dritten Welt, die "Verdammten dieser Erde" (Frantz Fanon).

Über den erwähnten inneren Zwiespalt setzten sich die ´68er "Revolutionäre" durch Identifikation mit der Dritten Welt hinweg. Die zuvor noch gepflegte - und in der Identifikation mit dem amerikanischen Vietnam-Protest und dessen Folklore weiterhin kultivierte - Wertschätzung der USA schlug  in Hass auf den "US-Imperialismus"  um - ein befriedigender Seelenzustand. Vergessen war die Absage eines Albert Camus an den in der Nachkriegszeit stalinistisch eingefärbten, jetzt die Revolution, Fidel Castro und den toten Che Guevara  preisenden Jean-Paul Sartre. Für den aus dem von den Nazis ins Exil gezwungenen,  ins zerstörte Deutschland zurückgekehrten Willy Brandt, Außenminister unter Bundeskanzler Kiesinger - dem die ach so couragierte "Antifaschistin" Beate Klarsfeld eine Ohrfeige verpasste -, hegte man nichts als Verachtung.

Zu den spezifisch deutschen Tiefenschichten der "Kulturrevolution von ´68" drang gleichwohl weder die Diskussionsrunde noch das unter der Hitze leidende Publikum vor. Einigkeit herrschte, dass von  der von Rudi Dutschke (anstelle der  von der RAF mörderisch praktizierten "revolutionären" Gewalt)  proklamierte - und ausgehend von den "68ern" über mehrere Generationen der Bundesrepublik hinweg geführte - "Marsch durch die Institutionen" hinweg zum totalen Erfolg geführt hat. Immerhin endete der Abend nicht in allgemeinem Lamento über die "linken" gründeutschen Zustände unter der CDU-Kanzlerin Merkel. Auch die Frage, warum die Eliten der - realiter demokratisch-liberalen - westdeutschen Gesellschaft sich vor fünfzig Jahren von den 68er-"Revolutionären" kampflos überwältigen ließen, wurde nicht gestellt.

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