Zum ersten Jahrestag des Ukrainekriegs schrieb ich einen Aufsatz über die tieferen, in Geschichte, Kultur und Großmachtpolitik verwurzelten Hintergründe sowie den mutmaßlich auslösenden Faktor für den - von Putin in großspuriger Propaganda als "militärische Spezialoperation" angekündigten - russischen Angriff auf die Ukraine (https://www.tichyseinblick.de/meinungen/ukraine-krieg-nikias-frieden/; https://globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2273-die-ukraine-und-die-aktualitaet-des-peloponnesischen-krieges). Akzeptiert man die - offen gegen Putin gerichteten - Erklärungen des Chefs der Söldnertruppe "Wagner" Prigoschin für seinen gescheiterten Putsch, so habe es vor dem 24. Februar 2022 weder Angriffsabsichten seitens der Ukraine noch Anzeichen für einen bevorstehenden Nato-Beitritt Kiews gegeben. Demnach hätte ich mich bezüglich des Auslösers ("trigger") des offenen Krieges geirrt. Dessen ungeachtet gibt es hinreichend Fakten in dessen mittelbarer Vorgeschichte (ungefähr datierbar auf den Zeitraum 2002 bis 2013/2014), die - vor dem Hintergrund des in russischen Augen demütigenden Niedergangs des russischen Imperiums - Putins Krieg plausibel, wenngleich keineswegs gerechtfertigt, erscheinen lassen.
Der russische Angriff auf die Ukraine läutete in den Worten von Bundeskanzler Scholz eine "Zeitenwende" ein. Die eindrucksvolle - indes nicht alle Waffensysteme umfassende - militärische Unterstützung der Ukraine seitens des Westens, in zunehmendem Maße gerade auch der Bundesrepublik Deutschland, geht einher - von "Dissidenten" am rechten und linken Rand abgesehen - eindeutiger moralischer Parteinahme. Sie wird - nach den grauenvollen Szenen vom Wüten russischer Einheiten in Butscha kurz nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew - tagtäglich bestätigt von Bildern der Drohnen- und Raketeneinschläge in ukrainischen Städten und den dabei getöteten, hilflosen Menschen.
Derzeit, noch unter dem Eindruck des zerstörten Krachowka-Staudamms sowie des Prigoschin-Putsches, verfolgen wir die Entwicklung der als kriegsentscheidend angekündigten ukrainischen Offensive an diversen Fronten. Krieg und Kriegsverlauf diesseits und jenseits des Dnipro/Dnjepr sind begleitet von Informationen und Kommentaren aus Medien und Politik. Wir sind gehalten, Emotionen, Sympathie und Moral nicht nur der leidenden Bevölkerung zuteil werden zu lassen, sondern - auf der politischen Ebene - als engagierte Bürger auch dem angegriffenen Staat Ukraine beizustehen, dazu die entsprechenden Entscheidungen unserer Regierung "alternativlos" gutzuheißen.
Bei nicht nur im Krieg gebotener Parteinahme, erst recht im aktuellen Kampfgeschehen, verschwindet die Komplexität historisch-politischer Konflikte sowie die Frage nach deren möglicher Lösung hinter dem Vorhang der von Politikern, Journalisten und als Experten angebotenen Analysen. Die Pilatus-Frage "Was ist Wahrheit?" weicht dem Dogma. Nichtsdestoweniger kommen die in jedem Krieg der von um Objektivität bemühten Interpreten des Geschehens übersehenen, von den Protagonisten des Guten verpönten Begriffe "Propaganda", schlimmer noch "Manipulation", zur Geltung.
Vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine ist das Interview des Historikers Christian Hardinghaus in der "Berliner Zeitung" geeignet, die propagandistische Unschärfen in den Medien zu erhellen. Er verweist auf die propagandistische Einfärbung der Berichterstattung seitens der Ukraine. (https://www.berliner-zeitung.de/open-source/christian-hardinghaus-ukrainische-propaganda-gelangt-ungefiltert-in-unsere-medien-li.364064?fbclid=IwAR3yke0sXW-QsDk_jTz0i_9ECZuM_w2fRL2_Y8cnCoZfwaqw6kmBhZZLnMo):
"Sie plädieren für einen besseren
Journalismus, angesichts der grassierenden Medien-Manipulation. Wie
könnte dieser aussehen? Hat die Digitalisierung in der Berichterstattung
zu einer Provinzialisierung geführt, welche anfällig ist für
Manipulation?
Ich beobachte unabhängig vom Ukraine-Krieg und
schon lange davor, dass unsere Medien zu unkritisch geworden sind und
zu regierungsnah berichten. Sie sprechen im wahrsten Sinne des Wortes
nicht mehr die Stimme des Volkes, hinterfragen zu zaghaft politische
Entscheidungen, nicht mal, wenn sie nachweislich gegen den
Mehrheitswillen im Volk getroffen werden. Das Problem liegt nicht bei
den einfachen Journalisten. Ich bin ja selbst einer davon. Viele, vor
allem diejenigen, die in einer Festanstellung arbeiten, würden gerne
anders, freier, mutiger berichten, können sich aber nach oben hin nicht
durchsetzen. Im Grunde geht es Journalisten nicht anders als allen
anderen. Die Menschen trauen sich zunehmend seltener, ihre Meinung offen
zu sagen, wenn diese zu weit von der Mitte des Overton-Fensters
verortet werden könnte. Für den Journalismus ist das natürlich besonders
fatal, denn so kann er seinen Grundstatuten selbst nicht mehr
nachkommen. Wir alle müssen also lernen, mutiger zu sein, damit sich im
Gesamten, was ändert."