Samstag, 3. Oktober 2020

Zum 3. Oktober 2020

I. 
Zum 30. Jahrestag der deutschen Wieder-Vereinigung sendete RBB (Radio Berlin-Brandenburg) ein Feature, in dem Mitglieder der zwei deutschen  - damals räumlich und politisch von einander weit entfernt gelegenen -  Forschungsstationen in der Antarktis über ihre Erinnerungen an das Jahr vom 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 sprachen. Nach dem für die Wissenschaftler aus der DDR völlig unfassbaren Nachricht vom Mauerfall kamen sowjetische Kollegen von der benachbarten Station und klopften ihnen freudig auf die Schulter. Ein paar Tage später kam es zur Begegnung mit der - wesentlich komfortabler ausgestatteten - westdeutschen Forschungsgruppe, die ausschließlich aus Frauen bestand. Die Nachrichten über die sich überstürzenden Ereignisse berührten die "Ostdeutschen" ohne Frage noch stärker, da es im Zuge des ökonomischen Zusammenbruchs der DDR zusehends auch um ihre berufliche Existenz ging. 
 
Nichtsdestoweniger feierten die Kollegen und Kolleginnen aus Ost und West am 3. Oktober im kalten, aber sonnenbeschienenen antarktischen Polarfrühling 1990 den Tag der wiedergewonnenen deutschen staatlichen Einheit gemeinsam. Zum denkwürdigen Tag kamen auch die Kollegen von der sowjetischen sowie von der indischen Station, um  den Deutschen zu gratulieren und mit ihnen zu feiern. Man spielte noch einmal die - von dem Bayern Johannes R. Becher einst "gesamtdeutsch" gedichtete - DDR-Hymne ("Auferstanden aus Ruinen"), sodann - nach einer Pause (Silentium!) "Einigkeit und Recht und Freiheit". 
 
Die Absurdität - und Inhumanität - der deutschen Teilung war seinerzeit  - außer den Machthabern, den Zynikern und Ideologen - aller Welt bewusst. Zu den Ausnahmen gehörte die dank Aktivismus und medialer Präsenz tonangebende Minderheit derer, die sich als Protagonisten der westdeutschen "Linken" verstanden. Jürgen Habermas, der ewige Praeceptor der Bundesrepublik (ante ac post 1990) degoutierte sich am "DM-Nationalismus", "linke" Protestanten invozierten die "deutsche Schuld", Joschka Fischer warnte vor der "deutschen Gefahr", Koryphäen wie Jutta Ditfurth und Claudia Roth marschierten hinter Transparenten mit Fäkalparolen her. Dass die westdeutschen Grünen wegen ihres Umgangs mit der deutschen Einheit nur dank einer - wenn auch vom Bundesverfassungsgericht sanktionierten - Wahlrechtsänderung im Dezember 1990 wieder im Bundestag vertreten waren, gehört zu den Fakten, die nicht nur von den Grünen, der die deutsche Politik und Gesellschaft anno 2020 dominierenden Kraft, vergessen sind und/oder aus postnationaler Gesinnung "verdrängt".
 
II.
Von den glücklichen Erinnerungen an Jahr 1989/90, von dem in der Nationalhymne beschworenen Glück des "Vaterlands", ist in den öffentlichen  Inszenierungen zum dreißigjährigen Jubiläum nur noch wenig übrig. Der Satz, den der Regierende Bürgermeister Walter Momper, angetan mit rotem Schal nach dem Mauerfall aussprach: "Wir Deutsche sind heute das glücklichste Volk der Welt", scheint heute undenkbar. Gemäß dem Konzept von "Weltoffenheit" und "Vielfalt", dem ideologischen Gewand der zur gesellschaftlichen Realität gewordenen, unvermindert anhaltenden Einwanderung aus aller Welt fällt ein  derartiger Satz in die Kategorie "völkisches Denken" oder "rechts", somit unter das Verdikt "Nazi", die populäre Variante des ideologisch gehobenen Faschismusverdachts.
 
Im Widerspruch zu der vor allem im westlichen Teil des Landes fortschreitenden Faktizität eines multiethnischen, postnationalen Deutschland steht das offiziöse Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als historische Antithese zum nazistischen Gewaltregime. Die Beschwörung der deutschen Vergangenheit, die Rede von der deutschen Geschichtsverantwortung, der Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus - unübersehbar symbolisiert durch das Berliner Mahnmal zum Gedenken der ermordeten Juden Europas - steht im Zentrum historisch-politischer Bildung, id est der Fundierung der "kollektiven Erinnerung" des Landes zwischen Rhein und Oder. Wenngleich unausgesprochen, ist damit das real existierende, auch für eine demokratische, pluralistische Gesellschaft unabweisbare Problem republikanischer Identität aufgeworfen. Es ist angesichts der demographischen Entwicklung kaum vorstellbar, dass auch in  Zukunft - bereits in der Generationenfolge innerhalb der kommenden dreißig Jahre - die bedrückende, in der Erinnerung an den 3. Oktober 1990 eben auch beglückende deutsche Nationalgechichte noch tragende Bedeutung für die politische Kultur des Landes in der Mitte Europas haben kann.
 
Mit derlei Überlegungen zum 3. Oktober 2020 wagt sich der Verfasser  dieses Textes in die deutsche Tabuzone. Wer die schrecklichen, "neonazistisch" oder "islamistisch" motivierten Verbrechen der letzten Jahre vor Augen hat, wer die sich radikalisierende Szene an den politischen Rändern beobachtet, wer die allgemeine Vulgarisierung sowie die - gesamtgesellschaftlich noch minder bedeutsame - Polarisierung von "Antifa" und "Neonazis" registriert, dem ist nicht zum Feiern zumute. Ihm kommen am 3. Oktober 2020 die schmerzlichen, vormärzlichen Gedanken des deutschen Dichters Heinrich Heines in den Sinn.

III.
Was das auf fehlender Selbstachtung, auf dem Verzicht auf eine deutsche - und naturgemäß europäische - Leitkultur ausgerichtete, auf fragwürdiger, so unreflektierter wie unaufrichtiger Hypermoral basierende heutige Deutschland betrifft, so sei zur Corona-bedingt reduzierten Jubelfeier 2020 aus einem Text des libanesisch-deutscher Regisseurs und Autors Imad Karim zitiert. Er kommentiert zwei von ihm "zufällig entdeckte" Videos, "die (beide)zeigen, wie diesem Land seine Kultur entzogen wird, ohne dass die Mehrheit diesen Verlust bemerkt. 

Für mich steht fest: Dieses Land wird jeden Tag brutal vernahöstlicht, orientalisiert, arabisiert, ixlamisiert (bewusst falsch geschrieben) und (es wird) seine(r) eigene(n) über Jahrhunderte gewachsene(n) Identität brutal beraubt."Beim Betrachten des einen Videos (https://youtu.be/-fjAYYGoK1o?) habe es sich für ihn "noch einmal bestätigt, dass wir, vor allem unsere Kinder und deren Kinder dabei sind, dieses wertvolle Deutschland, vielleicht für Jahrhunderte zu verlieren. 
 
Was heute in Kreuzberg (und auch an vielen Orten in NRW, Hessen und fast überall) stattfindet, wird morgen (spätestens in 20-30 Jahren) das gesamte Land erfassen. Vielleicht schaffen die Sachsen den Absprung und schließen sich den Visegrád-Staaten (wenn diese nicht vorher zusammenbrechen) an. Ich weiß für viele ist das heute (noch) unvorstellbar, doch nicht für mich. Es sieht - meiner Einschätzung nach - nicht gut aus für dieses Land."

Imad Karim steigert seine Elegie über das von ihm geliebte Land,das  "in den letzten Dekaden, insbesondere in der Ära Merkel" eine verhängnisvolle Entwicklung genommen habe, zur Anklage: "Während die schweigende Mehrheit schläft und schweigt, haben wenige machtbesessene Utopisten, für die die Demokratie und der Volkswille nur noch hohle Fassaden sind, geschafft, diesen gesamten Staat in Geiselhaft der ´Guten´ zu nehmen."