Freitag, 5. Dezember 2014

Friedensbekundung deutscher Refuseniks

 Ich verweise das geneigte Publikum auf eine Anzeige in der Berliner Zeitung "Der Tagesspiegel".  Die Unterzeichnerliste ergibt  ein äußerst  buntes Bild von "Putinverstehern", das all jenen Exponenten "westlicher Werte",  die wegen der Ukraine-Krise auf eine Konfrontation mit Rußland zielen, Kopfschmerzen bereiten dürfte. Sie bringen zum Ausdruck,  was die Mehrheit der Deutschen denkt: In einen offenen Konflikt mit Rußland lassen wir uns nicht hineinziehen. 


DER TAGESSPIEGEL.DE   5.11.2014



Gerhard Schröder und Antje Vollmer, Lothar de Maizière und Roman Herzog, Wim Wenders und Jim Rakete: Sie und viele andere Prominente fordern "eine neue Entspannungspolitik in Europa". Wir dokumentieren den Text des Aufrufes.

Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!
Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten. Alle Europäer, Russland eingeschlossen,  tragen gemeinsam die Verantwortung für Frieden und Sicherheit. Nur wer dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, vermeidet Irrwege.

Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen.

Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermaßen. Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.

Deutschland trägt besondere Verantwortung

In diesem Moment großer Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden. Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen, war eine große, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte. Eine Entscheidung von historischer Dimension. Aus der überwundenen Teilung sollte eine tragfähige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok erwachsen, wie sie von allen 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten im November 1990 in der „Pariser Charta für ein neues Europa“  vereinbart worden war. Auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Prinzipien und erster konkreter Maßnahmen sollte ein „Gemeinsames Europäisches Haus“ errichtet werden, in dem alle beteiligten Staaten gleiche Sicherheit erfahren sollten. Dieses Ziel der Nachkriegspolitik ist bis heute nicht eingelöst. Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.

 Deutschland muss zum Dialog mit Russland aufrufen

Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung,
 -         ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen
eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern.  Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten  und der Ukrainer. Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.

 "Friedenspflicht der Bundesregierung"

Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages,
-          als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.

 "Es geht nicht um Putin"

Wir appellieren an die Medien,
 -          ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündni
Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.

Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker: „Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. ... Nun können sie ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann. Für die Völker Europas beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine gesamteuropäische  Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen. Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa zu einigen  oder gemäß leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische Gegensätze zurückzufallen.“
Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg. Richard von Weizsäckers Mahnung ist heute, ein Vierteljahrhundert später, aktueller denn je.

 Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Mario Adorf, Schauspieler
Robert Antretter (Bundestagsabgeordneter a. D.)
Prof. Dr. Wilfried Bergmann (Vize - Präsident der Alma Mater Europaea)
Luitpold Prinz von Bayern (Königliche Holding und Lizenz KG)
Achim von Borries (Regisseur und Drehbuchautor)
Klaus Maria Brandauer (Schauspieler, Regisseur)
Dr. Eckhard Cordes (Vorsitzender Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft)
Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin (Bundesministerin der Justiz a.D.)
Eberhard Diepgen (ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin)
Dr. Klaus von Dohnanyi (Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg)
Alexander von Dülmen (Vorstand A-Company Filmed Entertainment AG)
Stefan Dürr (Geschäftsführender Gesellschafter und CEO Ekosem-Agrar GmbH)
Dr. Erhard Eppler (Bundesminister für Entwicklung und Zusammenarbeit a.D.)
Prof. Dr. Dr. Heino Falcke (Propst i.R.)
Prof. Hans-Joachim Frey (Vorstandsvorsitzender Semper Opernball Dresden)
Pater Anselm Grün (Pater)
Sibylle Havemann (Berlin)
Dr. Roman Herzog (Bundespräsident a.D.)
Christoph Hein (Schriftsteller)
Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch (Bundestagsvizepräsident a.D.)
Volker Hörner (Akademiedirektor i.R.)
Josef Jacobi (Biobauer)
Dr. Sigmund Jähn (ehemaliger Raumfahrer)
Prof. Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann (ehemalige EKD Ratsvorsitzende und Bischöfin)
Dr. Andrea von Knoop (Moskau)
Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz (ehemalige Korrespondentin der ARD in Moskau)
Friedrich Küppersbusch (Journalist)
Vera Gräfin von Lehndorff (Künstlerin)
Irina Liebmann (Schriftstellerin)
Dr. h.c. Lothar de Maizière (Ministerpräsident a.D.)
Stephan Märki (Intendant des Theaters Bern)
Prof. Dr. Klaus Mangold (Chairman Mangold Consultng GmbH)
Reinhard und Hella Mey (Liedermacher)
Ruth Misselwitz (evangelische Pfarrerin Pankow)
Klaus Prömpers (Journalist)
Prof. Dr. Konrad Raiser (eh. Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen)
Jim Rakete (Fotograf)
Gerhard Rein (Journalist)
Michael Röskau (Ministerialdirigent a.D
Eugen Ruge (Schriftsteller)
Dr. h.c. Otto Schily (Bundesminister des Inneren a.D
Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer (ev. Theologe, Bürgerrechtler)
Georg Schramm (Kabarettist)
Gerhard Schröder (Bundeskanzler a.D.)
Philipp von Schulthess (Schauspieler)
Ingo Schulze (Schriftsteller)
Hanna Schygulla (Schauspielerin, Sängerin)
Dr. Dieter Spöri (Wirtschaftsminister a.D.)
Prof. Dr. Fulbert Steffensky (kath. Theologe)
Dr. Wolf-D. Stelzner (geschäftsführender Gesellschafter: WDS-Institut für Analysen in Kulturen mbH)
Dr. Manfred Stolpe (Ministerpräsident a.D.)
Dr. Ernst-Jörg von Studnitz (Botschafter a.D.)
Prof. Dr. Walther Stützle (Staatssekretär der Verteidigung a.D.)
Prof. Dr. Christian R. Supthut (Vorstandsmitglied a.D. )
Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik (ehemaliger Berater im Bundeskanzleramt für Sicherheit und Außenpolitik)
Andres Veiel (Regisseur)
Dr. Hans-Jochen Vogel (Bundesminister der Justiz a.D.)
Dr. Antje Vollmer (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D.)
Bärbel Wartenberg-Potter (Bischöfin Lübeck a.D.)
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (Wissenschaftler)
Wim Wenders (Regisseur)
Hans-Eckardt Wenzel (Liedermacher)
Gerhard Wolf (Schriftsteller, Verleger)

Zweiter Wahlgang, erste Wahl

Der Nikolaus kam heute morgen ohne Rute und überbrachte der "Linken" ihr Wahlgeschenk, indes erst im zweiten Wahlgang. Es ist müßig zu spekulieren, wer im ersten Wahlgang im Erfurter Landtag schön heimlich seinen Dissens mit der Parteiführung der SPD und/oder der sich als Erben der DDR-Bürgerrechtler verstehenden Grünen bekundete. Ebenso überflüssig sind Spekulationen darüber, wer denn im für Ramelow siegreichen Wahlgang sich seitens der Opposition der Stimme enthielt.

Die Art und Weise, wie in Thüringen die neue Regierung zustandegekommen ist, bedarf dessen ungeachtet eines Kommentars. Zum ersten: Dass nach 14 Jahren CDU-Regierung (mit SPD-Koalitionssukkurs) das Wahlvolk den "Wechsel" will, klingt auf den ersten Blick demokratisch plausibel. Doch dass nur  52 % der Wahlberechtigten noch an der parlamentarisch-demokratisch verfassten Politik, d.h. am Wechselspiel, Interesse zeigten, passt schon weniger zum Selbstbild der Demokratie. Es bleibt festzuhalten, dass angesichts der neuen parlamentarisch erzeugten Machtverhältnisse in Thüringen in den Medien kein Lamento über die in der Wahlbeteiligung manifest gewordene "Politikverdrossenheit" angestimmt wurde.

Zweitens: Ach, alle Appelle der einstigen Aktivisten gegen den - mittlerweile von Ramelow koalitionstechnisch konzedierten - Unrechtsstaat DDR und dessen politische Nachlaßverwalter blieben vergebens. Wolf Biermanns Brief an den zum letzten Protest rufenden Bürgerrrechtler Matthias Büchner- erst heute in Auszügen in der FAZ zu lesen war in den Wind geschrieben. Warum wohl?

Die Antwort ist am wenigsten in den alle  Ramelow-Wähler überzeugenden Inhalten des Koalitionsvertrages - wann wurde eigentlich derlei befristete Ersatzverfassung  in die politische Praxis des bundesrepublikanischen Parlamentarismus eingeführt? - zu suchen, sofern es sich nicht um irgendwelche Versprechen fürs umworbene Wahlvolk handeln sollte. Die Antwort, warum die rot-rot-grünen Abgeordneten ihrem koalitionären Gewissen folgten,  ist weit simpler (wenngleich hypothetisch): Im Falle der Nichtwahl Ramelows wäre es im Lande des "düringischen Uffruhrs"  zu Neuwahlen gekommen. Den Grünen und den Sozialdemokraten wären womöglich noch weitere Sitze abhanden gekommen. Das wollte  denn doch keiner der Volksvertreter(-innen) riskieren, am wenigsten die auf den hinteren Listenplätzen. Das Gewissen unterlag dem Wissen um die Ungewissheit der eigenen Zukunft, die Sorge um die allseits gefährdeten  demokratischen Werte verschmolz mit dem schnöden materiellen Kalkül.

Der zweite Wahlgang war, so betrachtet, für die Vertreter der im September 2014 dezimierten Minderheitsparteien die erste Wahl.