Mittwoch, 26. November 2014

I. Weltkrieg: Logik des Absoluten und des Zufalls

In der "Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus" gegenüber der Berliner Nikolaikirche referierte der Historiker Jörg Friedrich über sein neuestes mehr als 1000seitiges Buch "14/18. Der Weg nach Versailles" (Propyläen Verlag, Berlin 2014. Anders als ein Rezensent (Christoph Cornelissen, in FAZ v. 28-07-2014 http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/joerg-friedrich-14-18-der-weg-nach-versailles-wenn-sich-der-qualmvorhang-langsam-hebt-13068854/deutsche-soldatengraeber-auf-13072580.html.) dem ob seiner provokativen Bücher in der Zunft und in den Feuilletons gemiedenen Erfolgsautor vorwarf, ging es Friedrich nicht um ein "Aufrechnen", auch nicht um  eine neuerliche Revision der nur noch in deutschen "Sonderweg"-Zirkeln gehegten Fischer-Thesen, sondern um die Aufhebung der politischen Vernunft und den Verlust aller Menschlichkeit durch die mörderische Logik des Großen Krieges.

In einem anscheinend launig unterhaltsamen Ton verflocht er die uns gegenwärtig faszinierenden blutigen TV-Szenen  in der Ukraine und in Nahost mit dem 1951 vermiedenen dritten Weltkrieg in Korea (J.F.: Yalu. An den Ufern des dritten Weltkriegs, Propyläen Verlag, Berlin 2007, 624 Seiten) und mit dem das Gedenkjahr 2014 beherrschenden Thema. Friedrich ging es ausdrücklich nicht um eine "revisionistische" Rekonstruktion der Julikrise, wohl aber um die Frage, warum die Großmächte in den Wochen nach dem Attentat von Sarajewo den Bündnisfall als gegeben erachteten und den Krieg in Kauf nahmen, warum spätestens nach dem Kriegseintritt Großbritanniens am 4.August 1914 die Logik des Krieges das Geschehen diktierte und die alte Clausewitzsche Doktrin vom Primat der Politik - und dem Krieg als dem politischen Zwecken  dienenden Instrument der Politik - versagte. Der einstige - dem vermeintlich marxistisch widerspruchsfreien Trotzkismus zugetane - "Linke" Friedrich  verzichtete auf den Begriff "Imperialismus". Er eröffnete ein Geschichtsbild, in dem die Linien der Kausalität in einem Gewirr zahlloser großer und kleiner, oft nachträglich ad hoc hinzugefügter Striche verschwinden.

1914 und 1919 versagte jene Ratio, die seit dem Wiener Kongreß Europa eine halbwegs stabile Friedensordnung gesichert hatte. Die einzige Logik, die  nach Kriegsbeginn die jeweiligen Akteure laut Friedrich verfolgten, war im Ersten Weltkrieg die des totalen Sieges über den Gegner, der Verfolg der "unverzichtbaren" - historisch-politisch, geostrategisch und kriegsökonomisch begründeten - Ziele bis zum Ende, im Falle der USA die moralisch absolute Überhöhung des eigenen interessegebundenen Handelns gegenüber dem - seit den deutschen Zerstörungen und Gewaltakten in Belgien im August 1914 - verteufelten Erzfeind der Menschheit. Die jeglichen Kompromiß  ausschließenden, jedem  Verzicht auf die jeweiligen - nicht allein im deutschen Fall  nach Kriegsausbruch ins Uferlose gesteigerten -  Kriegsziele absagenden Bewegungen der Akteure, diktiert von Machtinteressen, von Fehlkalkulationen, von militärischen "Zwängen" und  Zufällen, von persönlichen Rivalitäten - die wechselseitige Animosität der Generäle Rennenkampf und Samsonow verhinderte beispielsweise im August 1914 den womöglich kriegsentscheidenden russischen Sieg in Ostpreußen -, die Eigendynamik der im Weltkrieg potenzierten Kriegstechnik - all das hielt an bis zum endgültig  kriegsentscheidenden Durchbruch der Engländer bei Amiens (8.8.1918). Aus der Logik des Krieges und des  Sieges resultierte der Diktatfrieden von Versailles (sowie die anderen Pariser Vorortverträge), aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs die - so Friedrich - von Hitler und Stalin gemeinsam inszenierte Ouvertüre des Zweiten Weltkriegs.

Friedrich betont die - im Sinne humaner Vernunft -  irrationalen Aspekte des in die Gegenwart hineinwirkenden Dramas des Großen Krieges. Er vertritt die These, für das Deutsche Reich hätte nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit dem bolschewistischen Rußland (3.3.1918) der Sieg in Reichweite gelegen. Die Chance dafür habe nicht in dem von Ludendorff politisch ziellos angestrebten letzten "Sieg" ("ein Loch hineinhauen")  im Westen gelegen, sondern im Angebot der Reichsführung an Frankreich eines Verzichts auf Elsaß-Lothringen. Selbst der "Tiger" Clemenceau hätte sich vor seinem kriegsmüden Volk einem solchen Friedensangebot nicht veweigern können.  Die bereits mit einem Millionenheer in der Normandie präsenten USA hätten  aus dem solcherart neutralen Frankreich nur wieder abziehen müssen...

Ohne Spekulation, ohne Betrachtung des Kontrafaktischen,  ist Geschichtsschreibung - aller vermeintlich objektiven Fundierung der historischen Wirklichkeit  in den Akten - nicht zu denken. Auf die Folgen des Ersten Weltkriegs - den Aufstieg Hitlers und die Logik des Zweiten Weltkriegs (dazu J.F.: "Der Brand", Propyläen Verlag, München 2002, 592 Seiten) sowie auf die Gegenwart bezogen - zum einen die Rolle der geschwächten Großmacht Rußland unter dem kalkulierenden Machtpolitiker Putin, zum anderen der Umgang mit der potentiellen Atommacht Iran -, drehte sich die Diskussion um die Frage des Nutzens oder Schadens des "appeasement".

Als distanzierter Historiker entzieht sich Friedrich der moralischen Verdammnis des "appeasement". Sowohl das auf Beschwichtigung (und Ablenkung) des Aggressors zielende Kalkül der "Appeaser"  kann gutgehen - in diesem Sinne würdigte Friedrich den Erfolg der "Neuen Ostpolitik" - oder aber den Aggressor zu weiteren Provokationen ermutigen, bis... Umgekehrt kann das Ziehen der "roten Linie" den Zweck verfehlen: Wer die rote Linie benennt, muss seinen Worten Taten folgen lassen. Eben dies  mag der derart in die vermeintliche Defensive gezwungene Gegner erstmal auf die Probe stellen. Das Kalkül ging im Falle der sowjetischen Raketenstationierung auf Cuba anno 1962 auf. Ob sich indes Feinde des gottlosen Westens wie ISIS davon beeindrucken ließen?

Der Historiker Friedrich kam zu einem Resümee, das der insbesondere hierzulande vorherrschenden Neigung zu "grüner" Moralpolitik entgegensteht: Im Hinblick auf einen unberechenbaren Herausforderer, der die Gesetze der politischen  ratio geringschätzt, bewege sich der - oft nur vermeintlich selbst - Friedfertige zwischen Skylla und Charybdis. Fazit: Über der Geschichte, über unserer unerquicklichen, von nahegelegenen Kriegen beeindruckten und gefährdeten Gegenwart, liegt ein Hauch von Dezisionismus. Was nicht bedeutet, dass allein Carl Schmitt als  Denker des Politischen zu gelten hat. Ebensowenig  wie dessen schlichtes, wenngleich eingängiges  Kriterium gilt das aus amerikanischen Western bekannte Schema bad guys-good guys.




Freitag, 21. November 2014

Thüringen wartet auf den Nikolaus


I.
Drei strahlende Gesichter auf der Titelseite: die rot-rot-grüne Troika, vertreten durch eine bis dato unbekannte  Dame ("Die Linke") und zwei gleichfalls unbekannte Männer (für die SPD und die Grünen). Sie freuen sich wie dereinst die  Kinderlein am Abend des 6. Dezember, wenn endlich nach allerlei peinlichen Fragen und Ermahnungen  der Nikolaus die heiß erwarteten Geschenke hervorholte. Die prospektiven Koalitionspartner, die nach langen Jahren Großer Koalition unter der Pastorin Lieberknecht (CDU) einen "Politikwechsel" zustandebringen wollen, freuen sich über ihren Koalitionsvertrag, den sie mit Bedacht  als Geschenk fürs Thüringer Wahlvolk (Wahlbeteiligung am 20.September ca. 52%) verpackt haben. Damit das 108 (?) Seiten starke Geschenk zumindest mediengerecht gut ankommt, hat die Führungsriege der "Linken" eines ihrer heiligsten Güter geopfert, i.e. die Überzeugung, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, sondern ein Staat,  dessen Organe oft und bedauerlicherweise wider seine sozialistische Gesetzlichkeit verstieß.

Wem stockte nicht der Atem, als  der prospektive Ministerpräsident Bodo Ramelow, aus Hessen stammend, aufrechter protestantischer Christ und standfester Gewerkschafter, aus Versehen  die rote Linie überschritten und die Stasi mit der Gestapo verglichen, ja in eins gesetzt hatte? Zum Glück konnte er sich am Tag danach   interpretatorisch aus der Geschichtsfalle wieder herauswinden. Aber damit war die neue Linie immerhin vorgezeichnet. Jetzt  müssen die altgedienten Genossen aus Suhl, Gera und Mühlhausen sowie die kämpferischen Junggenossen, vielfach von westlich der Werra herübergekommen,  vor den Medien eingestehen, die DDR sei eben doch ein Unrechtsstaat gewesen - ein Begriff, mit dem die CDU das indifferente Volk noch einmal aufschrecken, die Genossen der Linken in die Defensive zwingen wollte.

Irrtum, man denke an Henri IV. Für die "Linke" ist Erfurt eine Kröte wert. Sodann: Die SPD hat es im Koalitionsbett endlich wieder  mit einem historisch sauberen Lebenspartner zu tun. Und die Grünen, Monopolisten der reinen Gesinnung,  feiern als moralischen  Sieg, wo es um Ministerposten  und die Sanktionierung des naturgemäß ökogerechten KoalitionsFairtrags geht. Das Ministerium für grüne Kühe, genauer: für die subventionsgesättigte, in GmbHs umgewandelte Landwirtschaft "im grünen Herzen Deutschlands" geht an die "Linke". Für die Grünen bleibt die Umwelt,  da es in Thüringen  um den Kickelhahn herum hinreichend windige Wipfel für naturgeschützte Windparks gibt, und zum Glück keine gewissensgefährdende Braunkohle. Für jeden der numerisch schwachbrüstigen Koalitionspartnerinnen fallen vertragsgemäß hinreichend Minister- und Staatssekretärsposten ab.

II.
So wird im einstigen Herzland des Sozialismus (und Nazismus) mutmaßlich alles gut gehen. Über Fragen der kapitalistischen Ökonomie zerbrechen sich die Linken (im weitesten Sinne) längst nicht mehr die Köpfe, höchstens noch  über Fragen der richtigen ("gerechten")  Umverteilung sowie der Allokation der Budgetposten. Was alle vereint, ist die Sorge um die allgemeine Bildung und/oder die Erziehung des Volkes, insbesondere die Sexualerziehung. Wie sie zu bewerkstelligen sei - beispielsweise anhand von mit ökologischem Gütesiegel bedruckten Utensilien für h/h/t/b/q-Users -,  zeigt derzeit die grün-rote Regierung in Stuttgart unter dem  grünen und katholisch-bürgerlichen Ministerpräsidenten Kretschmann (Mitglied im ZK der Katholen) im sexualfeindlichen, pietistischen Musterländle. Wenn die Koalition in Erfurt bis 2017 halten sollte, könnte man auch  Martin Luther als sprachkräftigen deutschen  Sexualerzieher historisch mit einbeziehen.

III.
Ob der rot-grün-rote Nikolaus am Nikolaustag tatsächlich  nach Thüringen kommt, entscheidet sich am Tag zuvor,  am 5. Dezember. An diesem Tag wird im Landesparlament über Ramelow, den Linke-Kandidaten  fürs Amt des Ministerpräsidenten abgestimmt, geheim. Selbst die prospektiven, vertragsgemäß gebundenen Koalitionäre rechnen mit drei Wahlgängen, denn die Sache ist bei 1 (in Worten: einer) Stimme Mehrheit denkbar knapp. Dabei wird offenbar, ob sich alle koalierenden Volksvertreterinnen (sc. V-, Nullsuffix) an  ihr durch Probeabstimmung eingeübtes Verhalten halten oder nicht. Erst beim dritten Wahlgang, immer noch geheim , wenn die relative Mehrheit  - im Extremfall bei Abwesenheit eines Gegenkandidaten eine einzige  Stimme gegenüber dem Rest - genügt, würde laut Thüringer Landesverfassung Ramelow in die Rolle des Landesvaters gelangen. Wenn sich im letzten Augenblick Lieberknecht ("die schwarze Mamba") oder irgendein(e) andere(r) CDU-Kämpfer(in) zur Gegenkandidatur entschließen sollte, würde es richtig spannend.   Es wäre immerhin denkbar-  vestigia Chattiae terrent -, dass der eine oder die eine Abgeordnete im letzten Augenblick sich an die Maxime des Grundgesetzes erinnert, wonach er/sie nur seinem/ihrem Gewissen - mithin  weder dem Koalitionsvertrag noch der Parteiräson - verpflichtet ist/sein sollte. Was dann?

Es wäre für die Sigmar Gabriel und seine SPD entsetzlich, weniger für die Grünen. Doch es besteht Hoffnung für Ramelow und seine Koalitionäre. Denn es gibt keinen Weg zurück in die alten,  deutsch-deutschen Zustände der frühen 1970er Jahre. Damals halfen die Stasi und "Onkel Herbert" bei den schicksalsschweren Abstimmungen im Bundestag dem schwachen Gewissen der Zweifler mit kleinen Geschenken (in DM) auf..

Mittwoch, 19. November 2014

X-mas in November

In Kalifornien, mutmaßlich auch in  anderen politisch hyperkorrekten Bundesstaaten der USA, hat man öffentliche Bezüge auf das in entferntem Sinne noch christlich begründete Weihnachtsfest aus Gründen multi-/interkultureller Egalität abgeschafft. Vor allem soll das Akronym X-mas  nicht mehr verwendet werden. Warum nicht auch gleich das an jedem letzten Donnerstag im November zelebrierte "Thanksgiving"  -  einst von den  puritanischen Pilgervätern als Danksagung an ihren strengen Gott fürs Überleben im unwirtlichen Massachusetts in den Kalender eingeführt - für interkulturell unverträglich erklärt wurde, entzieht sich der Kenntnis des Bloggers. Ohne Rücksicht auf buddhistische Mitbürger, auf empfindsam veganische Seelen - man denke an die mit Mutterglück gesegnete, mutmaßlich mit Sojamilch stillende Chelsea Clinton - oder auf Gleichstellungsforderungen, wird Barack Obama, der Mann  im Weißen Haus, sich  am 27. November mutmaßlich vor aller Welt mit scharfem Messer und großer Gabel über den Truthahn hermachen.  Womöglich ist erst anno 2017 die Methodistin Hillary Clinton als Erste Frau im Weißen Haus dran.

In Deutschland, wo derzeit eine von der (den?)  ARD (Allgemeine Rundfunkanstalten Deutschlands, nicht zu verwechseln mit AfD) angesetzte "Toleranz"-Woche abläuft,  ist man im Sinne interkultureller Sensibilisierung noch nicht so weit wie in Kalifornien. Zwar sollen die bei Vorschulkindern beliebten St-Martins-Umzüge in "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest" umbenannt werden. Dessen ungeachtet weihnachtet es längst und überall. Die ersten Nürnberger Lebkuchen und Dresdner Christstollen (!) beginnen bereits im Oktober die Regale zu füllen, ab Mitte November marschieren massenweise die Schokolade-Nikoläuse auf. Sodann: Wie alljährlch hat ein unbekannter Stifter in der Bundes-, ehedem Reichshauptstadt Berlin eine riesige Fichte (oder Tanne?) gestiftet, die, bekrönt mit großem Stern, den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, zieren wird. Kleinere Exemplare werden die sonstigen Weihnachtsmärkte, maßgeblich auf dem Alex und auf dem Gendarmenmarkt, begrünen.

Daß das christliche Friedensfest naht, merkt der Blogger nicht zuletzt an den tagtäglich eintreffenden Briefen aller möglichen Hilfsorganisationen, die in dieser trüben Jahreszeit an sein Mitgefühl und soziales Gewissen appellieren. Die Frage, wie sie alle, alle trotz des von bürgerrechtlich besorgten NGOs, ganz zu schweigen von der trotz medial-künstlicher Beatmung dahinsiechenden Bürgerrechtspartei FDP, beschworenen Datenschutzes an meine Adresse gelangt sind, stellt sich nicht. Ein Klick ins Internet genügte.

Was den von allen Seiten - um die Jahreszeit nehmen auch die um Almosen bittenden vornehmlich rumänischen Migranten - und M-innen vor Reichelt, Kaiser´s (=A & P) sowie vor der Post   zu - umworbenen Blogger und seine  Herzenshärtigkeit betrifft, so erinnere ich an meinen Eintrag vom Vorjahr:
http://herbert-ammon.blogspot.de/2013/11/caritas-oder-junk-mail.html







Dienstag, 11. November 2014

Leseempfehlung: Am 10. November ´89 im "Christlichen Hospiz"

Gleichsam als dokumentarischen Nachtrag zu dem von mir in Globkult "Zum Jubiläum des Mauerfalls: Drei Sozialdemokraten über die ungeraden Wege zur deutschen Einheit" besprochenen Buch druckte die FAZ ( v. 10. Nov. 2014, S. 3) die Aufzeichung eines Gesprächs ab, das am Abend des 10. November 1989 im "Christlichen Hospiz" in der Albrechtstraße in Ost-Berlin( heute: "Hotel Albrechtshof"  stattfand.

Nach der großen Kundgebung am Schöneberger Rathaus am frühen Abend des 10.11.1989 waren Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel nach Ost-Berlin gefahren, um Vertreter der vier Wochen vor dem Mauerfall gegründeten SDP näher kennenzulernen. Das Gespräch mit den Pfarrern Martin Gutzeit (Sprachenkonvikt Berlin), Peter Hilsberg (Golgatha- und S. Philippus-Apostelkirche), Hans Simon (Zionskirche)  sowie Ibrahim Böhme  fand unter Medienpräsenz - ein ZDF-Fernsehteam und eine FAZ-Fotografin - statt.

Im Rückblick - genauer:  im Hinblick auf die Rolle des "Geschäftsführers" Ibrahim Böhme als Stasi-Emissär - wirkt das Gespräch sehr erhellend.  Ibrahim (eigentlich: Manfred) Böhme (1944-1999)  eröffnet die Runde mit der Anrede: "Lieber Genosse Brandt!", was unter den Oppositionellen von damals eigentlich verpönt war. Willy Brandt fand hingegen, "Freund zu sein und sich auch so anzureden, ist nicht weniger als den traditionellen Begriff  ´Genosse´zu verwenden". Er fügte hinzu, "dass bei  mir die Freundinnen mit gemeint seien, wenn ich ´Freunde´sage." - Unter heutigen GenossInnen würde er für derlei ungegenderte Sprache Empörung ernten...

Aufschlussreich sind andere Passagen des Gesprächs: Böhme präsentiert sich als Sprecher der breiteren Opposition, nicht allein der SDP. Vor dem Hintergrund der in Scharen nach Western "wegmachenden" Bevölkerung, nicht zuletzt der Facharbeiter, klingen die von Gutzeit und Böhme geäußerten Besorgnisse über den Zusammenbruch des DDR-Staates plausibel. Vogel teilt die Besorgnis, verweist aber auf das - von den DDR-"Ausreisern" laut Grundgesetz (n.b.: als Inhaber der deutsche Staatsbürgerschaft laut Reichsgesetz von 1913) in Anspruch genommene - Grundrecht der Freizügigkeit.

Das Gespräch dreht sich sodann um Runde Tische und freie Wahlen. Böhme liegt sichtlich der Fortbestand der DDR am Herzen. Er glaubt, dass  "dieses kleine Land mit seinen vielleicht noch 15,5 Millionen Einwohnern die Chance hat, einen wirklich echten Parlamentarismus zu trainieren." Er sollte sich offenbar um ein Dauertraining handeln, bei dem auch die SED mitmachen sollte. Damit nicht die Gefahr eines "Machtvakuums" aufkomme, und dann keiner wisse, "wo es hingeht",  interpretiert Böhme die Position der SDP so, "dass - wir beide (?) haben heute darüber diskutiert - wir favorisieren würden (sic) sogar die Teilhabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an der Macht (sic!) in dem Maße, wie es (!) in einer Übergangssitutation aufgrund stabiler Bevölkerungsbefragungen (!), repräsentativer Bevölkerungsbefragungen, beteiligt sein muss."

Das Thema "deutsche Einheit" wird von Brandt und Vogel forciert. Brandt warnt vor dem Zeitverlust, der durch eine Verfassunggebende Versammlung in der DDR entstehen würde. Brandt: "Wir haben doch jetzt Einheit erlebt, gestern und heute. Das ist auch ´ne Form von Einheit, dass die Menschen zusammenströmen." Vogel, der zuvor gesagte hatte: "Hergott nochmal, ihr habt doch dasselbe in den Köppen wie wir", brachte die Formel von  Hoffmann von Fallersleben" ins Spiel, "dass für diese Zeit Recht und Freiheit und Einigkeit wichtig ist".


Samstag, 8. November 2014

Zum Jubiläum des Mauerfalls

Reflektionen zum 25jährigen Jubiläum des Mauerfalls sind angebracht. Ich muss das Publikum leider vertrösten. Immerhin bot die gestrige Gedenkstunde im blau bestuhlten Bundestag  Gelegenheit zu einigen Beobachtungen:

Der Plenarsaal war bestenfalls zu drei Vierteln besetzt. Dem Rest der Abgeordneten (w/m) schienen andere Termine offenbar wichtiger.

Wolf Biermann spielte nicht nur bemerkenswert gut Gitarre, ehe er zur Rede - und danach erst zum Singen -anhob, sondern brachte es fertig, die "Linken"-Bänke für deren BenutzerInnen sichtlich unbequem zu machen. Die meisten rutschten hin und her, pflegten mit Hinter- und Nebenmännern/-frauen kurze Konversation oder  feixten (wenn ich den bärtigen Dieter Dehn, einst Biermann-Manager im Westen und Stasi-Konfident in der westdeutschen Musik- und Politszene, richtig erkannt habe). Einzig Petra Sitte, in der ersten Reihe neben Gregor Gysi, hielt unbewegt die Stellung. Sie saß da, angetan mit buntem Hemd (Bluse?) und ärmellosem Pulli, wie in Ufa-Filmen  der Klassenstreber in der ersten Bank.

Um den richtigen Eindruck von Biermanns Auftritt - als ironisch souveräner "Drachtentöter" - zu vermitteln, zitiere ich die nachfolgenden Google-Überschriften aus unseren bundesrepublikanischen  Qualitätsorganen:

Mauerfall-Gedenken Bundestag: Biermann beschimpft ...
www.zeit.de › Politik › Deutschland
vor 1 Tag - Mauerfall-Gedenken: Biermann attackiert Linke im Bundestag scharf ... "Sobald Sie für den Bundestag kandidieren und gewählt werden, ...




  • Mauerfall-Gedenken: Eklat im Bundestag - Biermann nennt ...

    www.spiegel.de › Politik › Deutschland › 25 Jahre Mauerfall
    vor 1 Tag - Der Liedermacher Wolf Biermann teilt im Bundestag kräftig gegen die Linke aus. Bei der Feierstunde zum Mauerfall bezeichnet er die Partei ...
  • Mauerfall-Gedenken: Biermann-Auftritt im Bundestag nervt

    www.spiegel.de › Politik › Deutschland › 25 Jahre Mauerfall
    vor 2 Tagen - Der Liedermacher und DDR-Kritiker Wolf Biermann soll beim Mauerfall-Gedenken im Bundestag singen. Die Linke sieht die Einladung kritisch .

  • Gerda Hasselfeldt (CSU) verkündete, die "Union" habe als einzige Kraft in der alten Bundesrepublik stets   die Fahne der nationalen Einheit hochgehalten. Der Blogger erinnert sich an so aufrichtige Patrioten wie   Heiner Geißler, Rita Süßmuth oder Dorothea Wilms (zur Erinnerung: Gesamtdeutsche Ministerin) et  al., denen alles Mögliche am Herzen lag, nur nicht die deutsche Einheit.

    Katrin Göring-Eckardt unterließ es -  gleichsam dem Fraktionszwang genügend - zu erwähnen, dass anno 1989 unter den westdeutschen Grünen kaum mehr Einheitsbefürworter zu finden waren. Im Bundestag waren sie  grade noch mit  zwei, maximal drei Leuten vertreten, die unter den für ihren Humor bekannten
    Grünen nichts zu lachen hatten. . Die Grünen fanden seinerzeit nichts dabei,  den - damals  als solchen noch nicht identifizierten - Stasi-Mann Dirk Schneider zum "Deutschlandpolitischen Sprecher" zu erheben, selbst wenn sie über ihn zugleich als "Ständige Vertretung  der DDR bei den Grünen" ihre Witzchen machten.

    Göring-Eckardt absolvierte ihre grün-demokratische Pflichtlektion, indem sie behauptete, der Fall der Mauer sei  "keine schwarz-rot-goldene Revolution gewesen". Dann habe ich als Fernsehpatriot damals beim Eintreffen der  DDR-"Ausreiser" in Passau (im September 1989 aus Ungarn) sowie  in Hof (im Oktober  aus Prag), sodann  ad oculos beim Sturz der Mauer, danach  in Leipzig am 11. Dezember ("Deutschland einig Vaterland!") wohl die falschen Fahnen gesehen.

    Gysi musste bestrebt sein,  sich und seiner Partei mit einem pari-pari-Katalog, die Treue der Anhänger im Osten (Weise und Text: "Nicht alles war schlecht") zu erhalten, den Beitritt der DDR als "Beitritt" zu kritisieren  und zugleich dem Rechtsstaat Wertschätzung entgegenzubringen. Das dürfte gelungen sein, egal was die FAZ - in krauser Sprache - heute daran zu mäkeln hatte.

    Und wer möchte seinem Satz, die EU dürfe an ihren Meeresgrenzen im Mittelmeer  keine Mauern errichten, nicht von Herzen zustimmen? Ach, es geht nicht mehr darum, Motive und Zielrichtung der Flüchtlinge von   damals und heute abzuwägen. Gysi hat ja recht: Wir müssen die Ursachen der Flucht  - aus  Nahost, aus Afghanistan, Pakistan, aus Afrika, aus aller Welt  ins Paradies EU - beseitigen. Wir möchten nur gerne wissen: Wie? - Vielleicht hat die "Linken"-Verwandte Tante Antifa die Antwort: "Keiner ist illegal". Seid willkommen, Millionen!

    Am überzeugendsten und bewegendsten waren die Reden von Iris Gleicke (SPD) und Arnold Vaatz (CDU). Beide kannten die Mauer von der östlichen Seite und die  DDR von innen. Vaatz lernte die soziale Sicherheit der DDR sogar im Knast kennen.

    P.S. Ich darf das Publikum auf meine Besprechung des - im Herder-Verlag, nicht bei Dietz Nachf. - erschienenen Buches  von Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler und Wolfgang Thierse hinweisen. Soeben - eingestellt unter:
    http://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/946-zum-jubilaeum-des-mauerfalls-drei-sozialdemokraten-ueber-die-ungeraden-wege-zur-deutschen-einheit.



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